Jede noch so wissens- und leistungsorientierte Schule vermittelt in ihrem offiziellen und in ihrem heimlichen Lehrplan doch heute schon mehr: Formen der sozialen Zusammenarbeit, Wertvorstellungen, Menschen- und Gesellschaftsbilder. Also müssen diese reflektiert werden, müssen auch in der Bildungspolitik eine Rolle spielen.
Jede noch so wissens- und leistungsorientierte Schule vermittelt in ihrem offiziellen und in ihrem heimlichen Lehrplan doch heute schon mehr: Formen der sozialen Zusammenarbeit, Wertvorstellungen, Menschen- und Gesellschaftsbilder. Also müssen diese reflektiert werden, müssen auch in der Bildungspolitik eine Rolle spielen.Zu enger LeistungsbegriffLeistung ist etwa gefordert. Ich fürchte, man denkt hierbei bloß an mess- und testbare Leistungen, so wie sie Mathematik und Naturwissenschaft ermöglicht. Es ist dies ein enger Leistungsbegriff, der leicht zum Fetisch wird. Andere Leistungs-Begriffe sind denkbar – und letztlich auch humaner: die Leistung etwa einer Theatergruppe, ein Stück auf die Bühne zu bringen. Die Leistung, sich zum ersten mal mit Tanz oder Musik in die Öffentlichkeit zu wagen; Die Leistung, trotz Rechtschreibeschwäche Gedichte anzufertigen. Leistungen, wie sie alltäglich in der kulturellen Bildungsarbeit erbracht werden. Hier geht es um Wissen, sogar um prüfbares Wissen. Aber es geht auch um Fantasie, Eigenaktivität, Selbstwirksamkeit, es geht um soziale Prozesse, um Empathie und Toleranz, um gegenseitige Unterstützung.
Interessant ist ein Denkspiel: Angenommen, wir haben Erfolg damit, kulturelle Bildung im OECD-Kontext und in der „harten“ Bildungsforschung einzubringen, wie könnte dann ein „Kultur-PISA“ aussehen? Was wären Indikatoren, wie könnte man unsere hochabstrakten Lehr- und Lernziele operationalisieren, was wären geeignete Mess-Methoden? Mögliche Antworten könnten durchaus zur Professionalisierung der pädagogischen Arbeit beitragen (siehe die Überlegungen zur Evaluation im Rahmen des BKJ-Projektes „Schlüsselkompetenzen durch kulturelle Bildung“, http://www.schluessel-kompetenzen.bkj.de
Lernen soll wieder stattfinden, so heißt es. Natürlich ist das richtig. Im Spiegel-Artikel (Nr. 27, 1. Juli 2002, S. 68 ff.) kann man viele aktuelle Ergebnisse der Lernforschung nachlesen: Erfolgreiches Lernen hat mit Emotionen, mit Spaß und Freude zu tun. Erfolgreiches Lernen geschieht – auch bei Wissenserwerb – mit allen Sinnen: mit Singen, Turnen, Reimen. Lernen ist Eroberung von Welt. Und: All dies findet in der Jugend- und Kulturarbeit statt. Gerade die außerschulische Jugendarbeit hat pädagogische Konzepte entwickelt, in denen repressionsfrei Fehler gemacht werden dürfen, in der eine weit gehende Selbststeuerung stattfindet.
Diese Jugendpädagogik ist auch vor dem Hintergrund der Neurowissenschaften auf der Höhe der Zeit. Sie ist es insbesondere im Hinblick auf die in der PISA-Studie beschriebenen Prozesse „struktureller Demütigung“. Denn ihr Grundprinzip ist Anerkennung, ist das Anknüpfen an Stärken von Kindern und Jugendlichen, ist Förderung – und nicht Selektion. Instruktiv ist der Vergleich zwischen Bayern und Schweden (Spiegel Nr. 27, S. 78ff.). Ähnliche Ergebnisse in beiden Staaten, aber wie unterschiedlich sind die Wege! Hier frühe Auslese, scharfe Selektion und 20 Prozent Abiturienten, dort Gesamtschule, Integration und 70 Prozent Abiturienten. Schulqualität hat offenbar zu tun mit dem sozialen Klima, mit Arbeitslosigkeit und ökonomischer Situation. Das heißt, dass Bildungspolitik eng verwoben ist mit Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik (S. 78ff. der „Zusammenfassung“).
Der Wert von Schulabschlüssen erweist sich in der erfolgreichen Lebensgestaltung. Und hierfür muss die Gesellschaft Chancen bieten. Das wiederum können Jugend-, Bildungs- und Kulturpolitik nur zu einem geringen Teil alleine.
Was ist also zu tun?
1. Bildungspolitik muss davon ausgehen, was Kinder und Jugendliche wirklich wissen und können sollen. Daraus ergibt sich schnell ein Bildungsbegriff, der die PISA-Fächer durchaus enthält, der aber weit darüber hinausgeht. Alle sollten dafür sorgen, dass dieser weite Bildungsbegriff zur Grundlage der Bildungspolitik wird.
2. Diese weite Bildung kann nicht nur von einer einzigen Bildungsinstitution vermittelt werden. Familie, Jugendhilfe, Medien sind gleichermaßen in die Bildungspolitik einzubeziehen.
3. Das heißt aber auch, dass sich andere Politikfelder vernehmlich einmischen müssen. In der Jugendpolitik geschieht dies inzwischen. Die Kulturpolitik, die aus vielerlei Gründen Interesse an der kulturellen Bildung haben muss, ist eigenartig still.
4. Wenn Bildung so wichtig ist, wie zur Zeit überall gesagt wird, dann hat das sofort Folgen: Dann ist es widersinnig, dass – gerade bei der schlechten Lesekompetenz – Schul- und Stadtbüchereien geschlossen werden. Dann dürfen Einrichtungen der Jugendhilfe und speziell der Jugendarbeit, in denen teilweise eine Menge an Kompensation von Schuldefiziten erfolgt und wo insbesondere Möglichkeiten von individueller Anerkennung bestehen, nicht auf Grund von Haushaltsengpässen geschlossen werden. Dann müssen aber auch Kultureinrichtungen und Medienbetriebe an ihren Bildungsauftrag erinnert werden.
Bildungsausgaben sind keine Subventionen, sondern Investitionen! Eine These, die auch und gerade die OECD vertritt.
*Dieser Text schließt an meine Analyse „Kulturelle Bildung, PISA und Co.“ an (erschienen in „politik und kultur“ 2/2002)
Lesehinweise
Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000, Opladen 2001.
Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik Deutsch-land im Vergleich, Opladen 2002.
OECD: Knowledge and Skills for Life. First Result from PISA 2000. Paris 2001.
Münchmeier, R. unter anderem (Herausgeber im Auftrag des Bundesjugendkuratoriums): Bildung und Lebenskompetenz. Kinder- und Jugend-hilfe vor neuen Aufgaben, Opladen 2002.
Baumert u.a.: PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Zusammenfassung zentraler Befunde, Berlin 2002.