Eric Whitacre zählt zu den prägenden Chorkomponisten der Gegenwart. Seine Musik verbindet traditionelle Vokalklanglichkeit mit einer modernen, oft fast sphärischen Harmonik, die von Clusterbildungen, Schwebeeffekten und großflächigen Spannungsbögen lebt. Viele seiner Stücke sind technisch anspruchsvoll, zeichnen sich jedoch besonders durch ihre Sensibilität für Text, Atem und Resonanz aus. Seine gemäßigt moderne und oft plastische Klangsprache macht seine Musik emotional direkt zugänglich – und gerade diese Unmittelbarkeit prädestiniert sie für den schulischen Einsatz.
Das Gedicht „Stopping by Woods…“ von Robert Frost diente ursprünglich als Textvorlage für Eric Whitacres „Sleep“. (Abbildung: mit ChatGPT (DALL·E) generiertes Bild, erstellt am 14. November 2025)
„And miles to go before I sleep“
Ungewöhnliche Entstehungsgeschichte
Die Komposition „Sleep“ gehört zu seinen bekanntesten Chorwerken – und hat eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. Ursprünglich komponierte Whitacre das Stück im Jahr 1999 als Vertonung des Gedichts „Stopping by Woods on a Snowy Evening“ von Robert Frost. Dieses 1922 entstandene Gedicht zählt zu den populärsten und meistzitierten Werken der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts1. Seine ruhige, kontemplative Stimmung und die berühmte, wiederholte Schlusszeile „And miles to go before I sleep“ inspirierten Whitacre zu einer Musik zwischen schwebender Ruhe und meditativer Spannung.
Das Werk entstand 1999 als Auftragsarbeit und wurde im Oktober vom Austin ProChorus uraufgeführt. Eine anschließend geplante Veröffentlichung ließ sich jedoch nicht realisieren, da die Rechteinhaber des Frost-Nachlasses entgegen einer ursprünglichen Zusage die Freigabe der Textnutzung verweigerten. Die Musik war also fertig – doch der Text durfte nicht verwendet werden.
Whitacre wandte sich daraufhin an den US-amerikanischen Dichter Charles Anthony Silvestri, der einen völlig neuen Text schrieb, der in Stimmung, Rhythmus und Silbenstruktur eng an Frosts Vorlage angepasst war. So entstand „Sleep“ in seiner heute bekannten Form – eine Komposition über den Übergang zwischen Bewusstsein und Traum.
Die Tatsache, dass die Musik zunächst einem Text folgte und schließlich ein neuer Text von der ursprünglichen Text-Musik-Verbindung inspiriert wurde, macht „Sleep“ auch aus pädagogischer Sicht spannend: Sie lädt dazu ein, über den Zusammenhang von Sprache, Rhythmus und musikalischer Atmosphäre nachzudenken.
Da die Rechte an Frosts Gedicht seit kurzem frei sind, existiert inzwischen auch eine Einspielung des Werks mit seinem ursprünglichen Text, gesungen vom Ensemble VOCES8 unter der Leitung des Komponisten2.
Schulische Umsetzung
Eine schulische Auseinandersetzung mit „Sleep“ bietet sich besonders für die gymnasiale Oberstufe im Rahmen des Lehrplanbereichs 12.2 Musik und Tradition an. Das Werk eignet sich in mehrfacher Hinsicht zur Untersuchung von Traditionsbezügen und Traditionsbrüchen: Einerseits greift Whitacre auf Merkmale der chorischen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts zurück – etwa in Klanglichkeit, Phrasierung und Harmonik. Andererseits zeigt die Komposition exemplarisch, wie mit vergleichsweise einfachen Mitteln ästhetische Brüche in dieser Traditionslinie erzeugt werden können, etwa durch moderate Clusterbildungen, schwebende Harmonien und einem atmosphärisch weit geöffneten Klangkonzept. Damit eröffnet „Sleep“ den Schülerinnen und Schülern zugleich den Zugang zu zentralen Fragestellungen des Lehrplans, etwa zur individuellen künstlerischen Identität eines Komponisten in einer globalisierten Gegenwart.
Die nachfolgend dargestellten Unterrichtsmodule skizzieren Ansätze, wie dieses Werk im Unterricht umgesetzt werden kann – sowohl im Hinblick auf analytische Aufgabenstellungen (z. B. Erkennen von Stilbezügen, Vergleich mit traditionellen Chorsätzen, Diskussion von Bruchmomenten) als auch im Sinne der geforderten kreativen Übertragungsaufgaben. Aus urheberrechtlichen Gründen können hier keine Notenbeispiele wiedergegeben werden. Die Partitur zu „Sleep“ ist jedoch leicht erhältlich; sie war zudem auch Bestandteil einer bayerischen Abituraufgabe zu Beginn der 2010er Jahre.
Modul 1
Am Beginn der Unterrichtseinheit steht eine Kreativaufgabe. Dabei wird den Schülerinnen und Schülern zunächst das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer präsentiert. Gemeinsam wird die Struktur analysiert (a, a+b, b, b+c, a, a+c, a+b+c+d), anschließend bilden einige Lernende als Lernzielkontrolle ein ähnliches Gedicht mit frei gewählten, aber thematisch zusammenhängenden Begriffen.
In einem nächsten Schritt präsentiert die Lehrkraft den Beginn (Takt 1–13 des Originals) einer rein auf Vokalisen gesungen Version3 von „Sleep“ dreimal hintereinander in einer Schleife. Die Schülerinnen und Schüler werden dabei gebeten, ein Gedicht in der Form von „avenidas“, jedoch inspiriert von ihrem Höreindruck, zu erstellen4. Anschließend präsentieren mehrere Lernende ihre Texte – meist zeigen sich hier bereits Assoziationen wie Ruhe, Schlaf oder verwandte Motive, die eine Brücke zum folgenden Modul schlagen.
Die gewählte Aufgabenstellung erfüllt mehrere zentrale Funktionen für den Einstieg in die Unterrichtseinheit. Zum einen wirkt sie als bewusst niederschwelliger „Eisbrecher“ und eröffnet möglichst vielen Schülerinnen und Schülern einen unkomplizierten Zugang zur Thematik. Gleichzeitig schafft sie einen Raum für ästhetische Erfahrung im Sinne der Inszenierung ästhetischer Erfahrungsräume (Rolle, 1999): Die Lernenden können auf individuelle Weise wahrnehmen, deuten und gestalten. Damit verbunden ist ein hohes Maß an Autonomieerleben, denn die entstandenen Gedichte dokumentieren jeweils eine persönliche Konstruktionsleistung und stehen exemplarisch für das, was Beiderwieden (2022) als „Lehre vom Dritten“ beschreibt – ein vom Individuum geschaffenes Produkt zwischen eigener Wahrnehmung und Unterrichtsgegenstand.
Schließlich dient der Erstkontakt über die rein vokalisierte Version von „Sleep“ als vorbereitende Erfahrung, die den Übergang zur späteren Auseinandersetzung mit der textierten Fassung erleichtert und bereits erste thematische Assoziationen anbahnt.
Modul 2
Das zweite Modul beginnt damit, dass die Lehrkraft die ersten vier Verszeilen aus der Gedichtversion von Charles A. Silvestri im englischen Original – gegebenenfalls ergänzt durch eine deutsche Übersetzung – präsentiert („The evening … coming soon.“). Dazu erhalten die Lernenden folgenden Arbeitsauftrag: „Machen Sie sich zunächst mit dem Inhalt der folgenden vier Verszeilen vertraut. Hören Sie anschließend die Vertonung. Welche Wörter werden Ihrer Meinung nach durch den Komponisten besonders hervorgehoben? Mit welchen Mitteln geschieht dies?“
Nach einem ersten Hördurchgang der Takte 1–13 der textierten Version von Sleep werden die Beobachtungen der Schülerinnen und Schüler gesammelt und besprochen. Dabei sind unterschiedliche Antworten möglich: Einige Lernende bemerken möglicherweise die eher tiefe Disposition des Chores an dieser Stelle, die klanglich zum Wort „dark“ passt; andere können auf das kurze Innehalten des rhythmischen Flusses beim Wort „resting“ (dt. „ruhend“) verweisen oder Ähnliches.
Mit leistungsstärkeren Lerngruppen kann zudem ein analytischer Blick auf den in Takt 13 erstmals auftretenden Klang eines Dur-Dreiklangs mit hinzugefügtem vierten Skalenton geworfen werden (hier: c–e–g mit zusätzlichem f). Diese charakteristische Klangchiffre nutzt Whitacre im weiteren Verlauf des Werks mehrfach – teils auch in Umkehrung – an besonders markanten Stellen.
Modul 3
Nachdem die Lernenden über die ersten beiden Aufgabenstellungen schrittweise und mit kleinen Abschnitten an „Sleep“ und die Klangsprache Whitacers herangeführt wurden, wird ihnen mit der nun folgenden Aufgabenstellung erstmals das vollständige Werk präsentiert. Diese besteht aus zwei Teilaufgaben: „Sie hören ‚Sleep‘ in voller Länge. Lesen Sie im Notentext mit und gliedern Sie das Werk begründet in sinnvolle Abschnitte.
Vergleichen Sie Ihre Gliederung mit der Struktur des Textes. Wo finden Sie auffällige Abweichungen?“
Der erste Teil dieses Arbeitsauftrags entspricht einem in der gymnasialen Oberstufe – insbesondere auch in Abituraufgaben – häufig anzutreffenden Aufgabentyp des Musikunterrichts. Eine mögliche, schülergerechte Gliederung könnte wie folgt aussehen:
- Abschnitt 1: Takt 1–13, analog zu Strophe 1 der Textvorlage (vier Verszeilen); homophone choralartige Textur in tiefer oder mittlerer Lage in allen Stimmen.
- Abschnitt 2: Takt 14–27, analog zu Strophe 2 der Textvorlage (vier Verszeilen); homophone choralartige Textur in meist hoher oder mittlerer Lage in allen Stimmen.
- Abschnitt 3a: Takt 27–35, analog zu den ersten beiden Verszeilen der dritten Strophe der Textvorlage; homophone choralartige Textur in meist hoher Lage bei Sopran, Alt und Tenor, Bass hält Pedalton c‘.
- Abschnitt 3b: Takt 35–43, analog zu den letzten beiden Verszeilen der dritten Strophe der Textvorlage; homophone choralartige Textur in meist mittlerer oder hoher Lage bei Sopran, Tenor und Bass, Alt hält Pedalton c‘.
- Abschnitt 4: Auftakt zu 44–62, analog zur vierten Strophe der Textvorlage (vier Verszeilen); homophone Textur in Sopran und Alt, tief beginnend und sukzessive ansteigend bis in hohe Lage; Begleitung durch Tenor und Bass mit teils an die call-and-response Technik erinnernden Einwürfen; ab Takt 47 Teilung aller Stimmen.
Abschnitt 5a: Takt 63–68; mehrmalige Wiederholung des Akkordpendels As-Dur und B-Dur mit Farbtönen und Vorhalten über das letzte Wort der Gedichtvorlage („sleep“) in weitgehend tiefer Lage.
Abschnitt 5b: Takt 69–74; mehrmalige Wiederholung eines weiteren, tonal ambivalenten Akkordpendels über das letzte Wort der Gedichtvorlage („sleep“) in weitgehend tiefer Lage durch Alt, Tenor und Bass; Sopran hält den Pedalton f‘.
Eine harmonische Deutung des zweiten Akkordpendels ist bei ambitionierten Lerngruppen denkbar: Akkord 1 ist ein C-Dur-Akkord mit zusätzlichem f – der bereits aus Strophe 1 bekannte Klang. Akkord zwei stellt den gleichen Akkordtyp dar, allerdings auf Grundton B. Whitacre vermeidet hier jedoch eine Parallelführung dadurch, dass er diesen Klang in erster Umkehrung mit dem Terzton d im Bass setzt.
Nicht nur „Wie?“, auch „Warum?“
Musikalische Analyse ist ein Werkzeug – sie entfaltet ihr Potenzial erst dann wirklich, wenn sie über das reine „Wie?“ hinausführt. Statt Strukturen nur um ihrer selbst willen zu beschreiben, kann sie Lernenden helfen, das Besondere eines Musikstücks genauer zu erfassen: seine Stimmung, seine Dramaturgie, seine klanglichen Entscheidungen. Wenn Analyse also nicht Selbstzweck bleibt, sondern eine Brücke zu einem vertieften musikalischen Verständnis schlägt, wird sie für Schülerinnen und Schüler zu einem sinnvollen und motivierenden Bestandteil des Unterrichts.
Betrachtet man die Struktur des vorliegenden Werks, fällt auf, dass Whitacre zunächst eine klare Ordnung etabliert: Die ersten beiden Strophen werden in jeweils 13-taktigen Blöcken analog vertont. Die Vertonung der dritten Strophe bricht mit diesem Muster – sowohl durch ihre Zweiteilung als auch durch den Einsatz von Pausen als Spannungsmoment. Ich würde empfehlen, die Lernenden nicht zu früh mit der komplexen Entstehungsgeschichte des Werks zu konfrontieren, sondern sie zunächst ausschließlich mit dem Text von Charles A. Silvestri arbeiten zu lassen.
Nimmt man diesen an dieser Stelle hinzu, zeigt sich: Die ersten beiden Strophen beschreiben zunächst die Abendstimmung (Strophe 1) und dann den Kampf des lyrischen Ichs mit dem Einschlafen (Strophe 2). In Strophe 3 treten Störmomente auf – Geräusche in der Nacht, beängstigende Schatten, flackerndes Licht.
Diese Unruhe spiegelt sich deutlich in der musikalischen Gestaltung dieser Abschnitte wider; das „Warum?“ von Whitacres kompositorischen Entscheidungen wird durch die Hinzunahme des Textes unmittelbar nachvollziehbar.
Ob man hingegen die sich langsam aufschwingende Dramatik in Abschnitt 4 bis hin zum Höhepunkt in Takt 59 wirklich als zur Textaussage „as I surrender unto sleep“ passend empfindet, kann man durchaus kritisch diskutieren.
Modul 4
Als optionales Modul wurde an dieser Stelle Bachs Choral „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“ Whitacres Werk gegenübergestellt. Ziel war es, Ähnlichkeiten in der Textur zu benennen und die Traditionslinie zu verdeutlichen, in der sich „Sleep“ mit seiner choralartigen Anlage bewegt. Gleichzeitig wurden Unterschiede herausgearbeitet – etwa, dass bei Bach die Momente des Innehaltens am Phrasenende häufig Punkte harmonischer Entspannung darstellen, während Whitacre an vergleichbaren Stellen manchmal bewusst Reibungsklänge stehen lässt. Auch der unterschiedliche Bedeutungskontext des Motivs „Schlaf“ kann hier thematisiert werden.
Modul 5
Im abschließenden Modul werden die Schülerinnen und Schüler über die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte von „Sleep“ informiert. Die Lerngruppe liest zunächst Frosts Gedicht, klärt den Inhalt und diskutiert – je nach Möglichkeit auch fächerübergreifend – verschiedene Interpretationsansätze. Anschließend wird exemplarisch die Vertonung der dritten Strophe herausgegriffen und in beiden Textversionen vergleichend gegenübergestellt („He gives...downy flake“ bei Frost, „If there are...second sight“ bei Silvestri). Dabei wird nachvollziehbar, wie passgenau Whitacres Musik das fragende Schütteln des Geschirrs durch das Pferd beinahe lautmalerisch aufgreift und wie der Texturwechsel in Takt 35 den leichten Wind und die daunenartigen Schneeflocken in Frosts Zeilen ausdeutet.
Ein abschließender Hördurchgang des gesamten Werks mit Frosts Gedicht als Text rundet die Unterrichtseinheit ab.
Anmerkungen
- Eine praktikable Einführung in dieses Werk findet sich hier: https://www.normanrosenthal.com/blog/poetry-rx/stopping-by-woods-on-a-snowy-evening-analysis-meaning-summary/
- https://youtu.be/FgcZSiMLjlc?si=pS9S1M3Got-0cP5b
- Diese besondere, unter der Leitung des Komponisten entstandene Version des Werks findet sich als Video unter https://youtu.be/zKK62VMwgQ4?si=cuY5-RwGXGz4KFdw
Der betreffende Ausschnitt im Video dauert von 0:39-1:34. - Der Ansatz, das „avenidas“-Modell als kreative Schablone zu verwenden, stammt aus einem Beitrag von Birgit Jeschonneck in Georg Biegholdts Buch „Aktives Musikhören“ (Helbling, 2018).
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