Heek? Neuwied-Engers? Schlitz? Ochsenhausen? Ottweiler? Kapfenburg? Manche der deutschen Musikakademien haben sich in die Geschichte recht beschaulicher Örtchen eingeschrieben. Sechs-, sieben-, achttausend Einwohner, ein Marktplatz mit einem Eiscafé und einmal im Monat Tanz im Ratskeller. Hier kann man als gestresster Großstadtmusiker übers verlängerte Wochenende die Seele baumeln lassen, kommt neben dem Üben und Musizieren mal wieder dazu, einen Brief mit der Hand zu schreiben oder den Wirbel der d-Saite endlich mal so zu justieren, dass man sich beim Stimmen nicht mehr die Hand verrenkt.
Wenn gerade Weltmeisterschaft ist, ist die Probe heimlich etwas früher zu Ende und die Musiker versammeln sich bei Bier und Apfelsaftschorle vorm Beamer ... Aus gutem Grund also sind die Landesmusikakademien etwas ab vom Schuss. Auszeit. Etwas runtertakten. Und Kraft tanken für die Musik. Umso wichtiger ist es für die jeweiligen Häuser, den anreisenden Musikern ein möglichst perfektes Probenumfeld zu ermöglichen. Unbehelligt von Alltagssorgen sollen sich die Gäste ganz aufs Musikmachen werfen dürfen. Wohlfühlen hat Priorität.
Den verantwortlichen Politikern im Freistaat Sachsen muss das jemand vor ein paar Jahren so oder so ähnlich erklärt haben. Jedenfalls wurde ausnahmsweise einmal ordentlich geplant – und inmitten des kulturellen Bermudadreieicks Leipzig-Chemnitz-Dresden, im kleinen Colditz an der Mulde, mit Hilfe vieler Förderer und Unterstützer eine heimliche Preziose geschaffen. Wer die Anreise von der Autobahn hinter sich hat, an einer Zauberberg’schen psychiatrischen Klinik und verfallenden altsozialistischen Neubauten im völligen Nirgendwo vorbei, der sieht nach einer halben Stunde über Umleitungen und Hoppelsträßchen auf einem Berghang eins der schönsten Baudenkmäler der Renaissance winken: das weiße Schloss Colditz.
In England kennt jedes Kind dieses legendäre „Colditz Castle“; befand sich hier doch während des Zweiten Weltkriegs ein wichtiges Internierungslager, aus dem Engländer, Franzosen und Niederländer spektakulär ausbrechen konnten.
So mischen sich in Colditz also seit nunmehr fünf Jahren die zahlreichen britischen Tagestouristen mit sächsischen Musikern – und die Mélange ist herrlich. Lokalkolorit plus Weltläufigkeit. Ob das in die Musik abfärbt, die hier entsteht und geprobt wird?
Zum fünften Geburtstag gab’s eine riesige Torte. Das Geburtstagskonzert bestritt das Jugendjazzorchester Sachsen – die jungen Musiker waren vor genau fünf Jahren die ersten Gäste im Haus – vor einem entspannten Publikum, das den kleinen Konzertsaal bis auf den letzten Platz in Beschlag genommen hatte. Natürlich durften ein paar Politikerreden nicht fehlen; in Sachsen beglückwünscht man sich eben gern wortreich gegenseitig dazu, das Richtige getan zu haben. Abseits des Trubels darf man den Entscheidungsträgern ja sogar leise recht geben: Was hier entstanden ist, lässt sich über die Landesgrenzen hinweg sehen und hören. Sechs Probenräume, akustisch durch Wandelemente und Vorhänge hervorragend für die Arbeit präpariert, zwei größere Probensäle, ein Tonstudio mit Audio- und Videoverbindung zu vier der Probenräume, ein voll ausgestattetes Organisationsbüro, Notenpulte, Basshocker, Klaviere, Flügel, Harfen, Schlagwerk, alles steht für die jährlich rund 10.000 musikhungrigen Übernachtungen der Landesmusikakademie bereit und freut sich auf fachgerechte Benutzung. Jährlich finden eine große Sommerferienakademie, ein Nachwuchsjazzworkshop, zahlreiche Konzertveranstaltungen und Musikunterricht in Kooperation mit der Musikschule Muldental statt, halbjährlich wechselnde Kunstausstellungen bringen zudem Abwechslung in die Flure und Räume des Schlosses.
Alles perfekt also auf Schloss Colditz? Vorzeigeakademie? Könnte nicht besser laufen? Ein wunder Punkt sollte angesprochen werden: Die laufende Finanzierung der Akademie ist unzureichend, der Spielraum für die Projektarbeit und die Unterstützung der Gäste bei weitem zu klein. Wohl ist für Bett und Speise durch die ebenfalls auf dem Schloss ansässige Europa-Jugendherberge gut gesorgt. Aber eine einzige Vollzeitkraft, die durch einen Bundesfreiwilligen und einen Hausmeister in Teilzeit unterstützt wird, muss in der Landesmusikakademie Sachsen sämtliche Geschäfte führen, quasi vierundzwanzig Stunden pro Tag ansprechbar sein, sieben Tage die Woche, zweiundfünfzig Wochen pro Jahr. Was die musikalische Schlossherrin Christine Müller hier leistet, wie sie sich um simple Bestuhlungsfragen wie das Protokoll für internationale hochrangige Gäste, um ein Adapterkabel für die Band wie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für die Konzerte in regionalen und überregionalen Medien gleichermaßen herzlich kümmert, das können die Besucher auf Zeit gar nicht hoch genug schätzen. Es wird Zeit, dass Sachsen hier nachbessert und diese wunderbaren Räume auf dem weißen Schloss im Bermuda-Dreieck auch ganzjährig mit Leben zu füllen hilft.