Banner Full-Size

Hoffen auf ein klareres Bild der Realität

Untertitel
Anja Bossen im Gespräch mit Lisa Basten über die aktuelle Umfrage der ver.di
Autor
Publikationsdatum
Body

Dr. Anja Bossen ist seit September 2019 die gewählte Kunst- und Kulturbeauftragte der Gewerkschaft ver.di. Der Musikerin und Musikpädagogin ist es ein Anliegen, die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Kunst und Kultur entstehen, mitzugestalten und sich für eine Verbesserung der nach wie vor überwiegend prekären Lebensverhältnisse von Kulturschaffenden einzusetzen. Dabei versteht sie sich nicht nur als Interessenvertreterin der Kulturschaffenden, sondern als Vertreterin der kulturellen Interessen aller Mitglieder der ver.di. Diese Interessen vertritt sie unter anderem im Deutschen Kulturrat sowie im Präsidium des Landesmusikrates Brandenburg und in weiteren Gremien. Seit 25. August läuft eine Umfrage der ver.di, in denen die Arbeitsbedingungen von Kulturschaffenden untersucht werden. Lisa Basten sprach mit Anja Bossen zum Thema.

Lisa Basten: Warum noch eine Umfrage zu diesem Zeitpunkt? Haben wir nicht genug Daten, die zeigen, wie prekär die Lage für Kreative durch Corona ist?

Anja Bossen: Tatsächlich sind die Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitsrealität von Kulturschaffenden Auslöser für diese Umfrage. Allerdings steht Corona nicht im Fokus der Fragestellung. Die Pandemie hat aber auch gezeigt, dass wir zu wenig über die komplexen, hybriden, heterogenen Arbeitsverhältnisse von Kulturschaffenden wissen. Künstler:innen haben zum Beispiel oft mehrere Einkommensquellen. Viele arbeiten in mehreren Bereichen und unterschiedlichen Jobs, zum Teil als Selbstständige und zum Teil angestellt. Typisch ist zum Beispiel eine Kombination aus selbstständiger künstlerischer Tätigkeit und einer (Teil-)Anstellung in der musikalischen Bildung. Auch Einkommen aus Urheberrechten sind oft Teil der Mischung, mit der Kreative ihre Existenz finanziell sichern.

Mit der Umfrage will ver.di mehr über diese hybriden Arbeitsverhältnisse erfahren, um daraus Forderungen zu erneuern oder zu erweitern und anschließend mit den Ergebnissen an die Politik heranzutreten. Denn dazu gibt es tatsächlich zu wenige Daten. Die besonderen Arbeitsverhältnisse der Kulturschaffenden sind vielen politischen Entscheidungsträgern viel zu wenig bewusst – das hat sich in der Coronakrise ja auch deutlich gezeigt – mit der Folge, dass sehr viele Kulturschaffende nicht ausreichend sozial abgesichert sind. Und um das zu ändern, brauchen wir erst einmal eine solide Datenbasis. Hier können wir auf gute Erfahrungen mit den Umfragen zur sozialen Situation und Einkommenssituation von Musikschullehrkräften und Privatmusiklehrkräften verweisen, die zwischen 2008 und 2017 von der Fachgruppe Musik in ver.di durchgeführt wurden.

Die Ergebnisse fanden in zahlreichen Publikationen Einzug, vor allem aber rückte die dramatische Situation der Lehrkräfte wesentlich mehr in den Fokus der Politik. Dass beispielsweise der Anteil der fest angestellten Musikschullehrkräfte in Berlin von ursprünglich ca.  5% auf nun 25% steigt – was zwar insgesamt immer noch wenig, aber immerhin ein Anfang ist –, führen wir ganz erheblich auch auf die Ergebnisse der Umfrage zurück.

Basten: Dass Kulturschaffende neben ihrer künstlerischen Tätigkeit noch unterrichten oder dass von Urheberrechten allein nicht gelebt werden kann, ist ja nichts Neues. Warum interessiert sich die Gewerkschaft jetzt für diese Thematik?

Bossen: Corona hat die Fragilität dieser Konstrukte offen gelegt. Viele waren überrascht, wie schnell Rücklagen aufgebraucht, wie schnell wegbrechende Einkommen in einem Bereich zur existenziellen Bedrohung wurden.
Darüber hinaus hat die Kombination unterschiedlicher Einkommensquellen und -arten dazu geführt, dass viele kreative Hilfen nicht abrufen konnten und – mal wieder! – durch die Raster der sozialen Sicherungssysteme gefallen sind. Wir hoffen, mit der Datenerhebung ein sehr viel klareres Bild der verschiedenen künstlerischen Realitäten zeichnen zu können. Daraus wollen wir konkrete sozial-, arbeits- und kulturpolitische Forderungen ableiten, die noch passgenauer auf Kreative abgestimmt sind.

Basten: Welche Forderungen könnten das denn sein?

Bossen: Ich nenne mal ein Beispiel: Wir werden in Zukunft einen noch stärkeren Fokus auf die Arbeitsbedingungen in der kulturellen Bildung legen. Denn in diesem Bereich arbeiten mittlerweile immer mehr Künstler:innen, oft zu schlechten Bedingungen. Um hieran etwas ändern zu können, ist es sehr wichtig zu wissen, wie viele Menschen das tatsächlich betrifft, in welchen Bereichen sie tätig sind und in welcher Erwerbsform. Kulturelle Bildung wird bisher eher als gesellschaftspolitisches, nicht aber arbeitspolitisches  Thema gesetzt. Die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Bereichen kultureller Bildung sind aber extrem unterschiedlich. Wir hoffen, mit unseren Daten klarer beschreiben zu können, welche Rolle Selbstständigkeit, Nebenberuflichkeit, Tarifgebundenheit, soziale Absicherung et cetera in den unterschiedlichen Bereichen kultureller Bildung spielen.
Das ist die Grundlage für sozial- und arbeitspolitische Forderungen, die unseren Mitgliedern tatsächlich helfen. Auch für jeden anderen Aspekt, den wir in der Umfrage ansprechen, haben wir hypothetische Forderungen formuliert, die wir jetzt überprüfen.

Basten: Kulturschaffende, Küns­t­ler:innen, Kreative, Urheber:innen – Wer soll sich an der Datenerhebung beteiligen?

Bossen: Alle! Die erste Frage ist die Frage nach der kreativen Branche, in der die Befragten hauptsächlich tätig sind. Dort muss man auswählen unter anderem zwischen Theater, Literatur, Musik und Bildender Kunst. Auf Menschen, die in diesen Branchen tätig sind, liegt der Fokus dieser Umfrage – unabhängig davon, in welchem Beruf sie es tun.

Basten: Richtet sich die Umfrage nur an Mitglieder der ver.di?

Bossen: Nein! Wir wollen ein möglichst umfassendes Bild der Arbeitsrealität von Kulturschaffenden bekommen - unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in der Gewerkschaft. Je mehr Kulturschaffende sich beteiligen, desto aussagekräftiger sind die Daten und desto mehr politisches Gewicht werden die Ergebnisse bekommen.

 

Autor
Print-Rubriken
Unterrubrik