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„Judas beim Hohen Rat“ Foto: Peter Kitzbichler Passionsspiele Erl 2019.
„Judas beim Hohen Rat“ Foto: Peter Kitzbichler Passionsspiele Erl 2019.
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Außergewöhnliches Genre: Wolfram Wagners Musik für die Passionsspiele Erl

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Keine Oper, keine Schauspielmusik, kein Requiem, kein Musical: Die 2013 zum 400-Jahre-Jubiläum in Felix Mitterers Bühnenfassung uraufgeführte Auftragskomposition von Wolfram Wagner ist ein gewichtiger und wirkungsvoller Teil der alle sechs Jahre stattfindenden Passionsspiele in Erl/Tirol. Doch was für eine Funktion und was für einen Ausdrucksgehalt hat die neue Passionsmusik? Der Versuch einer Annäherung von Roland H. Dippel.

Ungewohnte Worte: Beim letzten Pessachfest nennt Jesus die Polarisierung der Geschlechterrollen von Frauen, die gleichberechtigt an der ersten Eucharistie teilnehmen, und Männern ein Vergehen. Der Verräter Judas bringt sich nicht um, sondern geht erst während der Kreuzigung verzweifelt ins Nichts. Am Boden rollen auch keine 30 Silberlinge. Gründlich aufgeräumt wird also in der aufgefrischten neuen Erler Passion mit beliebten christlichen Legenden wie der Gleichsetzung von Maria Magdalena und der Ehebrecherin aus dem Lukas-Evangelium.

Felix Mitterer hat seinen Text noch mehr aktuellen gesellschaftlichen Diskursen geöffnet. Das ist nicht ganz einfach, denn die Passionsspiele Erl, die 2013 ihr Jubiläum „400 Jahre“ mit der Uraufführung von Mitterers Text feierten, stehen wie alle anderen sakralen Volkstheater im Spannungsfeld zwischen Sujet, Tradition, Dogma, öffentlicher Kritik und Publikumserwartungen. Bei der Premiere am Sonntag gab es kräftigen und bei den Aufzeichnungen kalkuliert in Szene gesetzten Schlussapplaus im fast ausverkauften Passionstheater mit 1500 Sitzplätzen, 500 Darstellern aus der Gemeinde Erl mit den jetzt fast über das ganze Jahr gedehnten Tiroler Festspielen und der auf dem Platz unter der metallenen Skulptur der Dornenkrone vor Vorstellungsbeginn aufspielenden Musikkapelle.

Wiederholt wird dieses Jahr auch die 2013 zur Uraufführung gebrachte Passionsmusik des 1962 in Wien geborenen und opernerfahrenen Komponisten Wolfram Wagner. Man will die Menschen der Gegenwart gewinnen und nicht auf spirituelle Inhalte verzichten. Die Darsteller sind überwiegend Laien, der Produktionsrahmen und das Leading Team professionell: Markus Plattner (Regie), Annelie Büchner (Bühne), Lenka Radecky (Kostüme), Ralf Wapler (Licht) und nicht zuletzt Drummond Walker (Musikalische Leitung). Im 1959 erbauten Passionstheater mit der beeindruckend breiten Scena, auf deren Hintergrund sich schon lange vor der Kreuzigungsszene Wolken im taghellen oder sternklaren Bühnenhimmel bilden, prunken am rechten Proszenium Orgelpfeifen. Diese müssen natürlich auch zum Klingen gebracht werden.

Elastisches Band zwischen Tradition und Innovation

Bei einer Passionsaufführung wird es noch deutlicher als bei Aufführungen ‚klassischer‘ oder Neuer Musik, wie stark, elastisch und tragfähig das Band zwischen Tradition und Innovation sein muss. Vertraute Klanginhalte und neue dramatische Konstellationen dürfen an keiner Stelle vom Beginn mit dem Einzug in Jerusalem bis zum vom Publikum mitgesungenen Schlusschoral nach der Auferstehung (in dieser Fassung ohne Missionsauftrag) in ästhetischen oder dramaturgischen Widerspruch zueinander kommen.

Fortschrittlich orientiertes Komponieren im Rahmen des Geforderten kann man Wagner nicht absprechen: Der Beginn, das anspruchsvollste Stück der Partitur, ist ein umfangreiches Vorspiel mit kleinteiligen Abschnitten in erweiterter Tonalität, das direkt in die erste Szene übergeht. Viele Dialoge werden von den auf der rechten Hinterbühne sitzenden Musikern begleitet, was genau vorgegebene Geräusche, Percussion-Effekte und wortlose a-cappella-Wirkungen einschließt. Eine der beeindruckendsten Szenen ist der Gebetskampf in Gethsemane unmittelbar nach der Pause: Der Jesus-Darsteller steht hinter der Apostelgruppe, krallt seine Hände in die Schultern der vor ihm Stehenden und schreit seinen inneren Widerstreit heraus. Von weiter hinten, nicht genau ortbar, schärfen unregelmäßige Schnalz- und Keuchgeräusche diese Situation. Später mildern musikalische Stimmungsgebilde und synkopische Flächen Mitterers dramatischen Überdruck. Dieser entsteht durch Beschleunigung oder inhaltliche Schärfung. Die Verleugnung des Petrus dauert weniger als dreißig Sekunden. Im Disput des judäischen Hohen Rats mit dem Römer Pilatus fallen harsche und die politische Situation präzisierende Worte. In einer Szene geht es um die Bedeutung der Einzelnen oder der Masse im öffentlichen Diskurs, um Anpassung oder Rebellion.

Je weiter das Geschehen in bemerkenswert sicheren, sich ballenden oder zerstreuenden Massengruppierungen und klarer, dabei meist eingängiger Rhetorik fortsetzt, zieht sich Wagners Musik auf eine klare melodische Motivik und Instrumentation zurück, bildet Inseln im schnellen Tempo der Szenen und Auftritte. Auffallend ist das Vermeiden von Mustern älterer und neuer Sakralmusik. Diese Musik mildert melodramatische Suggestion und emotionalisierenden Druck auf das Publikum auffallend. Nicht zuletzt bietet sie den Darstellern wichtige Anhalts- und Orientierungspunkte. Und sie fällt wie das gesamte Theaterunternehmen Passionsspiele Erl aus jeder Genre-Marke. Auch deshalb, weil aktionsintensive Szenen wie die Gefangennahme ohne Musik auskommen.

Insgesamt 32 Vorstellungen bis 5. Oktober 2019, immer 13.00-16.00 Uhr (Hl. Messe im Passionsspielhaus an den Spielsonntagen um 10.00 Uhr) - Besuchte Vorstellung: 26. Mai 2019.

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