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Mahlers Alien: Nadine Geyersbach in „Mahler III“ am Theater Bremen. Jörg Landsberg
Mahlers Alien: Nadine Geyersbach in „Mahler III“ am Theater Bremen. Foto: Jörg Landsberg
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Die Bilder hinter der Musik: Mahlers III. Symphonie und ein Liederabend zu Franz Xaver Kroetz am Theater Bremen

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„Normale“ Oper lässt in der ersten Spielzeit des neuen Intendanten des Theater Bremen Michael Börgerding auf sich warten: Erst im März gibt es Webers „Freischütz“ und im April Mozarts „Così fan tutte“. Sperrig gab es bisher „Die Sache Makropulos“ von Leoš Janáček – eine glänzende Aufführung, aber nicht gerade ein Publikumsrenner –, peinlich daneben gingen Offenbachs „Banditen“, nicht angenommen wurde „Wo die wilden Kerle wohnen“ von Oliver Knussen.

Ein Renner hingegen wurde Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in der Inszenierung von Benedikt von Peter (siehe nmz Online vom 8.10.2012), der sich als neuer Operndirektor zur Aufgabe gemacht hat, Oper grundsätzlich neu und anders zu erfahren: Das Publikum selbst waren die Bewohner von Mahagonny, das ganze Theater wurde dafür umgebaut.

Der 35-jährige von Peter arbeitet da, wo er Chancen hat, seine Visionen, die nicht mit jedem Stadttheater kompatibel sind, umzusetzen. Seine Überzeugung, dass die Sinfonien von Mahler menschliche Dramen sind, traf auf die Ideen des Generamusikdirektors Markus Poschner, der auf der Suche ist nach Bildern hinter oder unter der Musik. So entstand jetzt in der Autorschaft von Beiden eine nicht weniger als sensationell zu nennende Premiere mit dem lapidaren Titel „Mahler III“, im Untertitel „Musiktheater mit Mahlers dritter Sinfonie“. Mahlers hybride maßlose, sechssätzige, fast zwei Stunden dauernde 1895 entstandene Sinfonie sprengt alles, was je unter diesem Begriff geschrieben wurde. Die Musik führt von der Gottlosigkeit und der Unbehaustheit des modernen Menschen zur Sehnsucht nach der Kunst als Transzendenz und Erlösung.

Vergeblichkeiten

Mit der Hinterbühne, der Bühne und dem Zuschauerraum als einer Achse und den beiden Nebenbühnen als einer zweiten entstand so etwas wie eine Kirche, auch ein Kreuz. Das Publikum wird in einen beängstigenden dunklen Raum geführt, in dem über schnell heruntergefahrene Lautsprecher die furchterregende Musik erklingt. Dann geht eine Wand auf, wir schauen in den Zuschauerraum. Und die gegenüberliegende Wand: wir stehen dem Orchester gegenüber, das auf einem 12 mal 12 Meter großen fahrbaren Podest sitzt. Es gibt fünf Leinwände, auf denen You-Tube-Motive gesammelt wurden: der Mensch beim Wandern, der Mensch beim Wohnwagenfahren, der Mensch beim Zeltbauen, all diese Vergeblichkeiten, aus der Sinnlosigkeit, der Urangst, dem Urchaos, das im ersten Satz mit Gewalt gespielt wird, herauszukommen.

Im Raum befindet sich ein Alien, eine in weißem Lack gekleidete Person – Nadine Geyersbach –, die wohl dieser nach Sinn suchende neue Mensch ist, auch das Alter Ego des Komponisten und der Zuhörer. Sie fotografiert unter anderm das Publikum. Dann tragen die Bühnentechniker, die auch permanent anwesend sind, Birkenbäume herein. Mitten im Publikum, das inzwischen seine Plätze eingenommen hat, steht Mahlers Komponierstübchen vom Attersee, in dem Nadja Stefanoff im vierten Satz ihr ungeheuer wirkendes „O Mensch! Gib acht!“ (Nietzsche) ohne falsches Espressivo ganz gerade und damit erschütternd singt. Der Alien ist die ganze Zeit bei ihr. Langsam fährt das Orchesterpodest nach vorne und ist beim letzten Satz ganz da. Und jetzt schweigen die Bilder. Und Markus Poschner und die Bremer Philharmoniker zeigen uns eine packende Interpretation des geradezu hämmernden Dur, auf die der ganze Abend schon hingeführt hat: Das mag Mahler sich wünschen, wirklichen daran glauben tut er nicht. 

Man mag streiten über den Sinn solcher Bilder – der Abend wurde mit ebenso deutlichen Buhs wie mit kraftvollen Bravos belohnt –, nicht streiten sollte man über den Versuch, eine Sinfonie einmal vollkommen anders erfahrbar zu machen. Für diesen Mut, der die Logistik eines Hauses unvorstellbar fordert, kann kein Wort des Lobes zu viel sein, auch wenn es Fragen und Schönheitsfehler gibt: dass zum Beispiel mitten im ersten Satz die Wand zur Bühne aufgeht und bei einigen provoziert, ins andere Publikum „Hallo“ zu winken. Dass der Aufenthalt auf der Bühne ein Privileg für diejenigen war, die Karten im Parkett hatten. Die Zuhörer im ersten und zweiten Rang saßen in der Dunkelheit und hörten den über Lautsprecher eben doch nicht so schön klingenden Mahler.

„Wunschkonzert“

Die Bilder zu Mahler waren nicht der einzige Versuch des Theater Bremen, Rezeption neu zu befragen. Kurz vor der Mahler-Premiere hatte es einen „Liederabend“ gegeben nach dem 1973 erfolgreich uraufgeführten „Wunschkonzert“ von Franz Xaver Kroetz, einem Stück, das vollkommen ohne Worte auskommt: Eine Angestellte verbringt die Riten des Abends in ihrer super-sauberen Wohnung beim Anhören des Wunschkonzertes im Radio und tötet sich dann mit Schlaftabletten – einfach so, ohne erkennbaren Anlass. Das ganze Elend eines öden Lebens ohne Liebe wird bei Kroetz als Sozialkritik deutlich, hier in Bremen regte es Michael Talke an, zu fragen, welche Rolle die Musik in unserer Psyche spielt oder spielen kann.

Und da hatte er kräftige Hilfe in der musikalischen Leitung von Tobias Vethake. Nadine Lehner ist die Protagonistin, dann erscheinen in denselben Klamotten und Frisuren der siebziger Jahre mit Marysol Schalit, Steffi Lehmann, Alexandra Herrmann und Tamara Klivadenko vier verschiedene Ausprägungen ihres  verzweifelten Inneren. Die Spielform ist auch schon musikalisch, die zweite macht dasselbe wie die erste, die dritte dasselbe wie die zweite, sozusagen Fugeneinsätze. Motive wie das Zeitungslesen, das Zigarettenrauchen, und vieles andere  werden quasi leitmotivisch durchgeführt.

Alle singen, singen die großen Lieder der Romantik mit ihren bewegenden Befindlichkeiten: „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide“, „...doch heimlich Tränen fließen“ (Schumann) „Und morgen wird die Sonne wieder scheinen“ (Strauss), „Ach welch wunderbarer Traum“ aus den Wesendonck-Liedern von Wagner, aber auch viele andere Lieder und den großen Schlussmonolog der Dido von Henry Purcell („Remember me!“). Das Musikprogramm mit seinen 18 Nummern wurde mit großer Kenntnis von Talke und Vethake ausgesucht und von allen bestens und ergreifend gesungen (Klavierbegleitung Jinie Ka und Cellobgeleitung von Vethake).

Der Einsatz der Musik schaffte ein Doppeltes: er stattete die Seelen der fünf Frauen – es war ja eigentlich nur eine  – mit allen Dimensionen aus, die der Musik möglich sind: Trost, Erkenntnis, Expression, Kommunikation, noch vieles mehr. Und er teilte genau dies auch dem Publikum mit, das dadurch mit einem differenzierteren Gefühlshaushalt konfrontiert war, als dies eine nur stumme Schauspielerin könnte. In gewisser Weise auch ein Stück über die Heilwirkung der Musik, die Mahler anstrebt. Ob diese Versuche das Publikum ansprechen, ob mit ihnen gar ein neues gewonnen werden kann, muss noch offenbleiben. Verdient haben es diese weiterführenden und zum Teil verstörenden Anstrengungen auf jeden Fall.

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