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Aribert Reimann
Urgestein der Liederwerkstatt: Aribert Reimann. Foto: Hufner
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Die „LiederWerkstatt“ des Kissinger Sommers ist immer für Überraschungen gut

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„Wenn man einmal Liederbücher des 20. und 21. Jahrhunderts herausgibt, wird die Hälfte davon in Bad Kissingen entstanden sein, so viel ist sicher.“ Der Satz, den Moritz Eggert in einem seiner Blogs schrieb, ist vielleicht etwas optimistisch, aber nicht ganz falsch. Denn der Kissinger Sommer, der in diesem Jahr zum 30. Mal in dem bayerischen Staatsbad veranstaltet wird, ist im Augenblick der einzige Ort in Deutschland, an dem noch Lieder und Zyklen systematisch produziert werden.

„LiederWerkstatt“ heißt diese Institution, die dem Festival ein Alleinstellungsmerkmal verschafft. Axel Bauni und Yaron Windmüller haben sie auf der EXPO 2000 in Hannover erstmals geöffnet, und über das Festival „Alpen-Klassik“ in Bad Reichenhall brachte sie Intendantin Dr. Kari Kahl-Wolfsjäger 2006 mit nach Bad Kissingen.

Die Idee ist genial einfach, aber schwer umzusetzen: Man nehme einen Dichter – Schiller, Goethe, Heine, Eichendorff, Petrarca, Shakespeare und andere lieferten schon Texte – und eine Gruppe von Komponistinnen und Komponisten, die in Bad Kissingen eine Woche zusammenkommen, um hier Vertonungen anzufertigen oder zumindest in täglicher Zusammenarbeit mit den Interpreten zu vervollkommnen. Dann wird die Werkstatt geöffnet: In zwei Konzerten werden die neuen Werke vorgestellt und in einen historischen Zusammenhang älterer Vertonungen gestellt und kontrastiert.

Nie war allerdings die LiederWerkstatt so offen wie jetzt in ihrem 12. Jahr. Denn die Komponisten – tatsächlich waren es bisher fast ausschließlich Männer – waren nicht auf einen Autor festgelegt und konnten sich selbst auf die Suche machen. Dafür hatte Axel Bauni, der die Firma seit Beginn leitet, Themen für die beiden Konzerte ausgegeben: „Tief in das Unbekannte, Neues dort zu finden“ und „Fremd, ganz fremd – auf einem unbekannten Weg“ – zwei Zitate, die dem Publikum noch begegnen sollten. Und in der Konsequenz war natürlich auch vollkommen offen, welche begleitenden Lieder die sieben Komponisten für ihre Uraufführungen aussuchen würden. Die Auswahl lag schließlich fern jeder Konfektion.

Das Personal der Werkstatt ist in zwei Klassen gespalten: Das „Urgestein“, das von Anfang an dabei war, waren in diesem Jahr Aribert Reimann, Manfred Trojahn und Wolfgang Rihm, die für die LiederWerkstatt schon viele Stunden Musik geschrieben haben. Reimann hatte „Cinq fragments de R. M. Rilke“ ausgewählt, mit deren Vertonung der Nestor der Gruppe seinem Ruf einer gewissen Zuverlässigkeit gerecht wurde: Es ist eine stark expressive Musik, die am Text entlang, mit kleinen Ausbrüchen gewürzt, starke Eigenständigkeit gewinnt. Die Sopranistin Sarah Mzali-Aristidou (eine echte Entdeckung) und Axel Bauni am Klavier lieferten eine hochkonzentrierte Deutung. Trojahn hatte sich bei Baudelaire bedient mit „L’invitation au voyage“ und „O Mort“ (Mzali-Aristidou und Bauni). Auch er geht an die Ränder des emotional Erträglichen, irritiert mitunter mit wilden Sprüngen. Aber wenn es der Text gestattet, zieht es ihn doch auch einmal zur Melodie.

Das war nach 12 Jahren LiederWerkstatt erwartbar. Die Überraschungen kamen von den in diesem Jahr eingeladenen Komponisten. Sarah Nemtsov etwa hatte „d’une femme, of a woman“ der Französin Maia Brami bearbeitet, die Gefühlwelt einer Frau, die sich einer Kinderwunschbehandlung unterzieht (Olivia Vermeulen, Axel Bauni). Und sie hat so viel Verzweiflung und Autoaggression in die bestürzend gut gesungene Musik gepackt, dass man sich, zumindest als männlicher Zuhörer, plötzlich in der unangenehmen Rolle eines Voyeurs wiederfand. Nikolaus Brass nutzte fünf expressive Texte des schwedischen Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer (Matthias Winckhler und Jan Philip Schulze), um die Entfaltung des Ichs, die Entstehung des Redens und der Musik aus dem Vorbewussten zu gestalten. Von einzelnen Vokalen, Konsonanten und Zischlauten über falsch zusammengesetzte Silben entwickeln sich unter Schmerzen kurze Sätze, die vom Klavier in einen düsteren, offenen Schluss getrieben werden.

Wenn man den „Ulysses“ schon nicht wirklich übersetzen kann, sollte man ihn wenigstens vertonen, muss sich Bernd Redmann gedacht haben (Karol Kozlowski, Bernd Redmann). Man kann. Die Absurdität der Texte, oft nur ausgestoßene einzelne Wörter, ist eigentlich ideal, weil sie die Phantasie nicht einschränkt. Und Redmann fand Lösungen, die den Biss und den Witz der Wörter nicht beschnitten, sondern sehr schön verstärkten. Es durfte auch gelacht werden. Steffen Schleiermacher hatte sich in der rumänischen Lyrik umgesehen und war bei Gellu Naum und dem Band „Ich mag es wie die Wölfe“ fündig geworden (Wolfgang Holzmair, Jan Philip Schulze). Es sind surrealistische Texte, die Schleiermacher durch klangliche Komprimierung und minimalistischen Zugriff verstärkt und spannend macht.

Und über allen Wolfgang Rihm. Er ist im Lauf der Jahre zum Klassiker geworden, der nichts mehr beweisen muss, der nicht mit extremen technischen Schwierigkeiten auf sich aufmerksam machen muss. Er ist interessant, weil seine Texturen stimmig sind, weil er einen guten Spürsinn für die Texte hat. Wenn er in seinen „Funden im Verscharrten“, vier Texten des Schweden Gunnar Ekelöf (Wolfgang Holzmair, Sarah Mzali-Aristidou, Siegfried Mauser) neben dem tragenden Bariton auch einen Sopran einsetzt, dann ist das in „Wenn man so weit gekommen ist“ die in Obertonsingmanier die Verdoppelung des „du“ und des „ich“, in der „Küste der Sirenen“ der bedrängende Gesang der mythischen Figuren. Und damit entsteht eine Mehrschichtigkeit, die der Text allein nicht bieten könnte.

Die LiederWerkstatt 2016 ist bereits gesichert. Wie es dann weitergeht, ist allerdings noch offen. Dann steht erst einmal ein Wechsel in der Intendanz des Kissinger Sommers an.

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