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Ein Grundsatzpapier als Moonwalk-Partitur: Der Deutsche Musikrat nach der Präsidiumswahl

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Am 17. Oktober wählten die Mitglieder des Deutschen Musikrats ihr neues Präsidium und bestätigten Martin Maria Krüger im Amt des Musikratspräsidenten. Die neue musikzeitung bat Hermann-Josef Kaiser, Ehrenmitglied des Rats, um eine erste Einschätzung dieser Wahl. [aus nmz 11-09]

I. Wie sichert man sich als Vorsitzender einer Organisation seine (Wieder-) Wahl?

1. Man legt die Vorstellung der Kandidaten und die Wahl selbst auf zwei verschiedene Tage.
2. Dadurch gewinnt man bei der Eröffnung des Wahlvorganges eine zusätzliche Möglichkeit zur Vorstellung eigener Perspektiven und zur Darlegung dessen, was man alles als Vorsitzender, als Präsident oder wie immer die Funktionsbezeichnung lautet, in den vergangenen Tagen und Jahren zustande gebracht hat oder glaubt zustande gebracht zu haben. Diese Möglichkeit der Positionierung haben natürlich die Gegenkandidaten nicht.
3. Dadurch erhält man überdies die Möglichkeit, neue Mitglieder, welche die gesamten Vereins-Usancen noch nicht kennen und von daher gutgläubig der Leitfigur des Verbandes folgen, noch vor der Wahl aufzunehmen und auf sich einzustimmen.
4. Man karrt, sofern man in den Vorgesprächen des ersten Tages hat realisieren müssen, dass es mit einer Wiederwahl eng werden könnte, all jene Personen, die am Tage der Vorstellung nicht anwesend sein konnten, am Wahltag noch zur Wahl. Ein Märchen aus einer anderen Welt? – Zweifel sind angebracht.

Am 16. und 17. Oktober fand im Berliner Abgeordnetenhaus die diesjährige Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrates statt. Dieser „unglückselige“ Verband, der Deutsche Musikrat, leidet – aus historischen Gründen, die hier aus einsichtigen Gründen nicht weiter entfaltet werden können – seit seiner Neugründung 2003 an einem Geburtsfehler: der organisatorischen und inhaltlichen Zweiteilung. Auf der einen Seite ist er Deutscher Musikrat e.V., auf der anderen Seite ist er Deutscher Musikrat gemeinnützige Projektgesellschaft mbH. Letztere ist zuständig „für die Vorbereitung, Durchführung und Abwicklung von Projekten, die dazu dienen, für alle Bereiche der Musik Beiträge für die Verbesserung der Musikkultur zu leisten“.

Als nicht nur dem musikorientierten Publikum vertraute Projekte sind hier unter anderem zu nennen das Deutsche Musikinformationszentrum, der Wettbewerb „Jugend musiziert“, das Bundesjugend- und das Bundesjazzorchester, der Deutsche Chor- und Orchesterwettbewerb und anderes mehr. Aber, so wird der bislang nicht umfassend informierte Zeitgenosse fragen: Welche Aufgabe hat dann der Deutsche Musikrat e.V.? Man wird ihm entgegnen: Er will „auf der Grundlage gesamtgesellschaftlicher Verantwortung als Dachverband für alle Bereiche der Musik Beiträge zur Verbesserung der Musikkultur leisten“. Das heißt: Er soll zur Förderung deutschen Musikschaffens, zu seiner Verbreitung im In- und Ausland sowie zur Verbesserung seiner Rahmenbedingungen beitragen, sich für die Verbesserung der Voraussetzungen des Lehrens und Lernens in allen Bereichen der Musikerziehung einsetzen, Nachwuchs für Musikberufe gewinnen und fördern, das Laienmusizieren in seinen verschiedenen Formen fördern, internationale Beziehung pflegen und als Voraussetzung für die Verwirklichung seiner Ziele umfassende Informationen über den Bestand der Musikkultur sammeln und auswerten.

Wenn ein von der Sache unbelasteter Zeitgenosse daraufhin sagen würde: Verstehe ich das richtig: Der eine Teil, die Projektgesellschaft, macht die gesellschaftlich nützliche Arbeit und hat dafür auch Geld; der andere Teil macht die Ideologie und hat kein Geld – dann könnte man einer solchen Äußerung kaum widersprechen.

II. Das Grundsatzprogramm

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für solche Ideologiebildung wurde vom Präsidium den Mitgliedern des Musikrates auf der zuvor genannten Mitgliederversammlung am 17. Oktober zur Kenntnisnahme und Abstimmung vorgelegt: Musikpolitik in der Verantwortung – Grundsatzprogramm des Deutschen Musikrates. Im Vorwort wird darauf hingewiesen, dass es sich dabei in Struktur und Umfang nicht um ein herkömmliches Grundsatzprogramm handele, sondern – wenige Sätze später – um ein „atmendes Grundsatzpapier“. Bleibt zu hoffen, dass sich der Deutsche Musikrat an diesem Papier nicht „veratmet“, Chancen dafür bietet es nämlich ausreichend.

Ein Beispiel: So wird das bisherige Leitmotiv „Musik bewegt“ aufgegeben zugunsten von „Musikpolitik in der Verantwortung“. Den Mittelpunkt des alten Leitmotivs bildet die Musik mit all den Implikationen wen sie, was sie und wozu sie bewegt und bewegen kann. Es klingt darin die ganz alte Vorstellung von der Macht der Musik an, die sie auf uns Menschen auszuüben vermag. Im Begriff Musikpolitik dagegen rückt sie semantisch an die zweite Stelle. Sie wird zum Mittel, mit dessen Hilfe etwas erreicht werden soll. Der Autor oder die Autoren des Papiers scheinen das gespürt zu haben, wenn sie darauf hinweisen, dass zu allen Zeiten Musik „auch genutzt, verwertet, instrumentalisiert und (…) selbst Gegenstand von Gruppeninteressen“ wurde; der darauf folgende Hinweis auf ihre missbräuchliche Verwendung in totalitären Staatssystemen verstärkt die negative Konnotation des Begriffs Musikpolitik. Dagegen wird „ein neues Verständnis von Musikpolitik“ gesetzt.

Dieses Verständnis wird – nicht gerade bescheiden – als „Paradigmenwechsel“ deklariert. Er entspringe „einer (alten) Erkenntnis, dass Musikpolitik auch Gesellschaftspolitik“ sei. Doch lassen wir das Papier selbst sprechen um seine Eloquenz und argumentative Stringenz besser als wir es können, deutlich werden zu lassen: „Voraussetzung (für den Paradigmenwechsel) war die Erkenntnis, aus dem Erkennen eigener Potenziale und dem zu verstärkenden Bewusstsein, gestaltender Teil einer Gesellschaft zu sein, die ohne die Mitwirkung der zivilgesellschaftlichen Kräfte nicht bestehen kann, den Gesichtskreis aktueller und zukünftiger Handlungsfelder zu erweitern. So ist die Aufgabe des Konsensprinzips der Einsicht geschuldet, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile ist. Auf dieser Grundlage hat der Deutsche Musikrat den Konsens einer Musikpolitik entwickelt, die Mitverantwortung für das heute und morgen in unserer Gesellschaft übernehmen will“.

Man weiß wirklich nicht, was das bedeuten soll; erst recht nicht, wenn der instrumentale Gebrauch von Musik, gegen den das Papier zuvor zu Felde gezogen ist, in der nun anschließenden Definition fröhliche Urständ feiert: „Musikpolitik ist ein Instrument, um mit und durch die Musik Politik für eine humane Gesellschaft zu betreiben.“ Also dann doch lieber „Musik bewegt“. Und lassen wir den Musikrat lieber Politik für die Präsenz von Musik in unserer Gesellschaft und all die Menschen machen, für deren Lebensform Musik bedeutsam ist oder werden kann.

Es bleibt aber eine weitere Frage: Wie kann ein Papier, das gerade an einer Stelle durchforstet wurde und das eine Vielzahl ähnlicher Ungereimtheiten aufweist, ohne eingehende Diskussion und ohne ein energisches Dazwischentreten von Mitgliedern des DMR in einer Abstimmung einfach durchgewinkt werden. Das lässt nur einen Schluss zu: Entweder die Mitglieder haben es zuvor nicht gelesen oder ein solches Papier ist von derart geringem Interesse, dass es nicht beunruhigt. Das allerdings führt zum nächsten Problem.

III. Reflexions-distantes Wahlverhalten

Ich komme noch einmal auf die Wahl des Präsidiums des Deutschen Musikrates am 17. Oktober zurück, weil in ihr Tendenzen wirksam werden, die für die gesamte gesellschaftliche Musiklandschaft nicht unerheblich sind. Es wurden ja nicht nur Präsident und – neuerdings – drei statt zwei Vizepräsidenten gewählt, sondern auch der fünfzehnköpfige erweiterte Vorstand. Die Idee dieser Konstruktion für ein in dieser Weise erweitertes Präsidium war ursprünglich, alle relevanten musikbezogenen Gruppierungen in die Beratungs- und Entscheidungsprozesse des Musikrates durch repräsentative Vertreter einzubeziehen.

Es gibt schon zu denken, wenn bei Abstimmungen von 96 Stimmen nur 5 von wissenschaftsorientierten Verbänden kommen, wenn die Musikwissenschaft im erweiterten Präsidium nicht angemessen vertreten wird, wenn das Angebot zur Mitwirkung der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen sich nicht in einer Mitgliedschaft im erweiterten Präsidium des Musikrates niederschlägt. Man muss aus dem Wahlverhalten der überwiegenden Zahl der Mitglieder des DMR schließen, dass sich der Musikrat in den nächsten Jahren in eine reflexions-distante, praktizistische Zone hinein bewegt. Das verbandsspezifische Interesse scheint sich auf die ökonomische Unterstützung der eigenen Projekte zu konzentrieren. Was aber folgt daraus?

IV. Folgerungen

Die musikpädagogischen und musikwissenschaftlichen Organisationen und Verbände werden sich neu orientieren müssen. Das heißt, sie werden ihre Kräfte bündeln müssen, intensiv kooperieren, um gemeinsam und nachdrücklich ihre Interessen wahren zu können. Für die musikpädagogischen Verbände könnte das zum Beispiel darin bestehen, die Föderation musikpädagogischer Verbände inhaltlich und organisatorisch anders als bisher zu strukturieren, mit anderen Kompetenzen auszustatten und anderen Aufgaben zu betrauen. So könnte wenigstens für die Musikpädagogik ein Moonwalk, das Auf-der-Stelle-Treten bei gleichzeitigem Anschein des Voranschreitens, abgewehrt werden.

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