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Reinhard Oehlschlägel, Max Nyffeler, Gisela Gronemeyer, Heinz-Klaus Jungheinrich. Foto: © Astrid Karger
Reinhard Oehlschlägel, Max Nyffeler, Gisela Gronemeyer, Heinz-Klaus Jungheinrich. Foto: © Astrid Karger
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Ein streitbarer, fruchtbarer Geist ist verstummt – Zum Tod von Reinhard Oehlschlägel

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Jahrzehntelang war er eine gut hörbare, unverwechselbare Stimme im Musikjournalismus. Doch er war weit mehr als ein Journalist. In seiner weit gefächerten Tätigkeit als Autor, Redakteur, Zeitschriftenherausgeber, institutioneller Anreger und Organisator erwies er sich als ein Kämpfer für die Sache der Neuen Musik, der in seinem Bereich enorm viel in Bewegung brachte und weit über Deutschland hinaus für seine Initiativen geachtet und manchmal auch gefürchtet war.

Geboren 1936 in Bautzen, kam Reinhard Oehlschlägel um das Kriegsende mit seiner Mutter nach Niedersachsen auf das Landgut von Will Vesper, an dessen Tisch er als Kriegskind eine Zeitlang durchgefüttert und vermutlich dauerhaft gegen rechtes Gedankengut immunisiert wurde. Nach einem Schulmusikstudium wandte er sich dem Journalismus zu. Er schrieb zunächst Musikkritiken für die Frankfurter Allgemeine und die Frankfurter Rundschau und kam 1972 als Redakteur für Neue Musik nach Köln an den Deutschlandfunk, wo er bis zu seiner Pensionierung 2002 tätig war.

Als Achtundsechziger und linker Sozialdemokrat verstand er Journalismus als Teil einer gesellschaftsverändernden Praxis. Und die hatte für ihn da anzusetzen, wo er selbst tätig war: an der Front der damaligen Avantgardemusik. Seine Ziele verfocht er kompromisslos und ohne Rücksicht auf eigene Gefährdungen. 1970 gehörte er zu den Organisatoren des Protests gegen die Leitung der Darmstädter Ferienkurse, die unter Ernst Thomas im postseriellen Akademismus steckengeblieben war. Die Folge waren Hausverbot in Darmstadt und Schwierigkeiten mit der Zeitungsredaktion. Beruflich vertrat er mit voller Überzeugung das, was man anwaltschaftlichen Journalismus nennt; Medienarbeit war für ihn nicht objektives Berichten, sondern leidenschaftlicher Kampf für die Musik, die er persönlich als förderungswürdig erachtete. Das bedeutete auch Kampf für eine Reform der Institutionen, die dieser Musik in seinen Augen zu wenig Interesse entgegenbrachten. Zusammen mit ihm, dem damaligen WDR-Redakteur Wilfried Brennecke und mit Eigel Kruttke war ich 1972 in der Kommission, die das Statut der deutschen Sektion der IGNM neu zu formulieren hatte – eine Arbeit nicht ohne Haken, die der Kollege Oehlschlägel mit strategischer Intelligenz und einem Gespür für das kulturpolitisch Exponierte, aber gerade noch Machbare anging. Die Gesellschaft für Neue Musik war von da an ein wichtiges Spielfeld für seine musikpolitischen Aktivitäten. 1980 war er auch an der Gründung der Kölner Lokalsektion der GNM beteiligt.

Ein untrügliches Gespür hatte Reinhard Oehlschlägel auch für alles, was vom Nimbus einer oppositionellen Ästhetik umgeben war. Er setzte sich früh ein für Komponisten wie Klaus Huber, Hans-Joachim Hespos, Helmut Lachenmann, Josef Anton Riedl, Mauricio Kagel oder Dieter Schnebel, die vom Musikfeuilleton noch um 1970 als kuriose Käuze belachelt wurden; mit Kagel führte er nach der Uraufführung von dessen „Exotica“ 1972 in München allerdings aus weltanschaulichen Gründen eine jahrzehntelange Dauerfehde. Als Redakteur beim Deutschlandfunk knüpfte er in den frühen siebziger Jahren auch zielstrebig seine ersten, damals noch politisch heiklen Kontakte zur gerade entstehenden DDR-Avantgarde und schlug für die politische Musik von Hanns Eisler bis Frederic Rzewski eine Bresche. Auf der anderen Seite unterstützte er publizistisch den Komponisten Walter Zimmermann, der in seinem Kölner Loft amerikanische Außenseiter auftreten ließ. Die amerikanische Avantgarde, allen voran John Cage, versuchte er fortan mit allen Kräften in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu verankern. Mit zahlreichen Reisen zu den Festivals und Komponistentreffs in den USA erwarb er sich grundlegende Kenntnisse vor Ort.

Neben der publizistischen Tagesarbeit, die für ihn nie Routine, sondern stets eine vitale kritische Auseinandersetzung mit den Gegenständen und Personen seiner Aufmerksamkeit bedeutete, startete Reinhard Oehlschlägel in den 1980er Jahren zwei Initiativen mit weitreichenden Folgen. 1980 war er maßgeblich beteiligt an der Gründung des Frankfurter Ensemble Modern, das sich – auch dank seiner publizistischen Unterstützung – rasch einen Ruf als Spezialensemble für neue Musik erwarb. Und 1983 gründete er zusammen mit Ulrich Dibelius, Ernst Albrecht Stiebler und Gisela Gronemeyer die Zeitschrift „MusikTexte“. Sie wurde zu einem Spiegel seiner musikästhetischen Auffassungen – radikal der Sache verpflichtet, oft einseitig und manchmal auch rechthaberisch bis zum Sektierertum, aber trotzdem mit einer immer wieder überraschenden Weite des Horizonts. Und, nicht zu unterschätzen, mit einer editorischen Professionalität, an die andere musikalische Zeitschriften und Magazine nicht herankommen. Als Begleitprodukte sind im zeitgleich gegründeten MusikTexte-Verlag bis heute zahlreiche Komponistenmonografien und Aufsatzsammlungen zur neuen Musik erschienen, außerdem, als internationaler Ableger der „MusikTexte“, das englischsprachige Magazin der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik. Auch in dieser altehrwürdigen Gesellschaft hierließ der unermüdliche Gremienarbeiter Oehlschlägel deutlich sichtbare Spuren; den von vielen Seilschaften und von nationaler Pfründenwirtschaft durchsetzten Vorstand wirbelte er eine Zeitlang gehörig durcheinander.

In den letzten Jahren ist es um Reinhard Oehlschlägel ruhiger geworden, er beschränkte sich zunehmend auf die redaktionelle Arbeit und auf Autorenbeiträge für die „MusikTexte“. Am 29. April ist er nun nach langer Krankheit in Köln im Alter von 77 Jahren gestorben. Die Leidenschaft, mit der er sich für die zeitgenössische Musik einsetzte, war ohne Beispiel. Die Zeitschrift wird, dank der kompetenten Arbeit von Gisela Gronemeyer und mit einer rechtzeitig verjüngten Redaktion, ohne Zweifel erfolgreich weitergeführt werden. Ohne die persönliche Handschrift ihres wichtigsten Gründers wird sich aber ihr Charakter grundlegend verändern. Das betrifft darüber hinaus vermutlich auch den allgemeinen Diskurs in der zeitgenössischen Musik, den er jahrzehntelang mitgeprägt hat. Mit seinem Tod ist eine publizistische Ära zu Ende gegangen.

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