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Intolleranza 1960 | 2021: Ensemble. Foto: © SF / Maarten Vanden Abeele
Intolleranza 1960 | 2021: Ensemble. Foto: © SF / Maarten Vanden Abeele
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Fresko des Grauens – Luigi Nonos „Intolleranza1960“ bei den Salzburger Festspielen

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Es gehört zu den Qualitätsmerkmalen der Salzburger Festspiele, dass Schlüsselwerke der Moderne ins Programm integriert sind. Markus Hinterhäuser qualifizierte sich unter anderem durch seine programmatischen Erkundungen ganzer (Komponisten-) Kontinente der Moderne dafür, jetzt, um das Jahrhundertjubiläum der Festspiele herum, als Intendant ein künstlerisches Gesamtprogramm zu präsentieren, das vielen verschiedenen Ansprüchen genügt. Kulinarik und die Musik der Hausgötter Mozart und Strauss sind das eine.

Herausfordernde musikalische und szenische Interpretationen gehören dabei spätestens seit den Zeiten von Gerard Mortier permanent zu den Maßstäben wie eben auch die Entscheidung für Werke von Hans Werner Henze, Wolfgang Rihm, Katja Sarahiao oder eben Luigi Nono. 

Dass ein Hauptwerk des italienischen Exponenten einer politisch linken, klassenkämpferischen Moderne wie „Intolleranza1960“ von Luigi Nono (1924-1990) auf der Bühne eines Festivals wie Salzburg heute ganz selbstverständlich dazu gehört, spricht für die künstlerische Autonomie der Musik. Aber auch für die Integrationskraft des (Hoch-)Kulturbetriebes. In der aktuellen Neuproduktion für die Jan Lauwers nicht nur die Regie und Choreografie, sondern auch die Bühne und die Videos verantwortet, finden sich Belege für beide Aspekte der aktuellen Verortung von Nonos Azione scenica in zwei Teilen. Den im Libretto vom Komponisten verwendeten Textbruchstücken von Henri Alleg, Bertolt Brecht, Paul Éluard, Julius Fučík, Wladimir Majakowski, Angelo Maria Ripellino und Jean-Paul Sartre hat Lauwers mit The Blind Poet ein eigenes hinzugefügt.

Bei der Uraufführung vor 60 Jahren in Venedig war diese Art bekennenden Musiktheaters noch eine Provokation des bürgerlichen Opernpublikums. Wegen der damals noch verstörenden Musiksprache. Und wegen der politischen Parteinahme. Mit einem Ankämpfen gegen Intoleranz, wenn auch auf fast verlorenem Posten. Am Ende kommt der Gastarbeiter im Stück, der „nur“ in seine Heimat zurück will, in den Fluten einer Naturkatastrophe sogar um. Auf dem Weg wird er in Demonstrationen verwickelt, landet in einem Lager, wird gefoltert, erfährt aber auch Solidarität. 

Heute gehört Nonos Musik zum Kanon einer im Opernrepertoirebetrieb akzeptierten Avantgarde. Sie verschreckt nicht mehr, sondern kann auf Verständnis rechnen. In Salzburg wird die Neuproduktion vier Mal gezeigt. In der zweiten Vorstellung (am 20. August) war die Felsenreitschule voll besetzt. 

Überholt sind diese Probleme nicht – im Gegenteil. Sie bieten Steilvorlagen für einen szenischen Brückenschlag über die letzten 60 Jahre in die Gegenwart mit ihren globalen Fluchtbewegungen und Naturkatastrophen. Und manchmal greifen die Zeitläufte in einer Weise nach der Kunst, die fast schon unheimlich ist.

Peter Konwitschnys Intolleranza-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin etwa fand so kurz nach 9/11 statt, dass man nur noch einen knappen Verweis darauf einbauen konnte. Am Tag der Premiere in Salzburg fiel Kabul. Bei einem so auf die Verwerfungen der Zeit zielenden Werk wirken diese harten Fakten der realen Welt auf die Maßstäbe zurück, mit denen man eine szenische Realisierung beurteilt. 

Lauwers hat dabei auf jeden Fall die archaische Atmosphäre der Felsenreitschule auf seiner Seite. Die meisten Rundbögen sind verschlossen – das Orchester hat sich auf Plattformen links und rechts auch auf dieser speziellen Bühne ausgebreitet. Was bei einem Dirigenten wie Ingo Metzmacher, der an dieser Spielstätte auf die Blockbuster der Moderne abonniert ist, kein Problem, sondern eher schon ein Vorteil ist. Die Massen von Tänzern und Tänzerinnen (von BODHI PROJEKT und SEAC-Salzburger Experimental Academy of Dance) und die Choristen (der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor) wogen über die gesamte Bühnenbreite oder finden an der Rückwand Momente der Ruhe. Am Ende bilden sie einen großen Kreis um die am Boden liegenden Flutopfer und die Musik verstummt. 

Begonnen hatte der Abend mit einer Irritation, die damit spielt, dass der lärmende Störer durchaus auch echt hätte sein können. Seine „Störung“ der erwartungsvollen Ruhe im Saal ist aber nur der Auftakt für den Aufmarsch der Massen, deren Präsenz in den folgenden anderthalb Stunden die Bühnenästhetik prägen. Diese Massenbilder erweitern sich zu beeindruckender Opulenz, wenn sie auf die Arkadenwand (Video und Licht: Ken Hioco) projiziert werden. Da wird das Ganze zu einem hochästhetischen, lebenden Fresko des Grauens. Oder eben das Grauen ästhetisch. Ein Video mit einem neugierig in die Welt blickenden und an den Brüsten seiner Mutter spielenden Säugling wirkt da als Bild der Hoffnung auf das Leben zwar anrührend, streift gleichzeitig aber auch den Hang zum Kitsch.

Der Tücke einer naturalistischen Aktualisierung entgeht Lauwers. Er setzt auf die Wirkung einer unmittelbar aus der Musik heraus choreografierten Masse. Assoziationen zu den heute ja strittigen Vokabeln wie „Strom“ oder „Welle“ im Kontext mit Flüchtlingen stellen sich ein, bleiben aber stilisiert und entfalten ihre Wirkung vor allem als Teil der Musik. Problematisch wird es allerdings, wenn das knappe Dutzend der an der Rampe aufgereihten Folterszenen als Choreografie der Gewalt schöner Körper (inklusive Kunstblut) stilisiert werden. Damit wird dann aber doch eine illustrierende Bebilderung touchiert.

Vor und gleichsam über dem szenischen Geschehen demonstrieren die Wiener Philharmoniker und Ingo Metzmacher mit traumwandlerischer Sicherheit und Präzision ihre Kompetenz für diese Musik und die Souveränität, gerade diesen speziellen Saal damit zu erfüllen. Da wird nicht mit der Brutalität von gewehrsalvengleichen Ausbrüchen gespart (einmal zuckte mein Sitznachbar regelrecht zusammen), da werden Aufschreie in Klänge übersetzt oder brechen sich direkt Bahn. So, wie das minutenlange (von Lauwers eingefügte) Gelächter, das schnell als absurder Versuch, gegen die Angst und die Wirklichkeit anzukämpfen, kenntlich wird.

Imponierend, wie Metzmacher all die Zerklüftungen und Sprünge im Orchester, beim Chor (exzellente Einstudierung: Huw Rhys James) zusammen- und den Solisten dennoch den Rücken freihält. Dabei profiliert sich Sean Panikkar, dessen Weg die disparaten Bilder des Stückes zusammenhält, grandios als der Emigrant. Aber auch Sarah Maria Sun als seine Gefährtin. Anna Maria Chiuri setzt ihn quasi als Stimme der Heimat eindrucksvoll emotional unter Druck. Antonio Yang (als Algerier) und Musa Ngqungwana (ein Gefolterter) komplettieren das Solistenensemble. Den von Lauwers eingefügten blinden Poeten verkörpert sein Sohn, der belgische Autor Victor Afung Lauwers. Erst nur im weißen Anzug und zitternd auf einem Podest, wird er nach seinem Gedicht aus der Masse heraus verhöhnt und geschlagen. Sonst dominieren die Klanggewitter über den Menschenwogen. Ein eindrucksvolles Kunstwerk. Auch über deren Vergeblichkeit. Auf allen Kanälen wird derweil der Fall Kabuls gemeldet.

 

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