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Adriane Queiroz (Ljusja) und Ensemble in „Moskau Tscherjomuschki“ an der Berliner Staatsoper. Foto: Thomas Bartilla
Adriane Queiroz (Ljusja) und Ensemble in „Moskau Tscherjomuschki“ an der Berliner Staatsoper. Foto: Thomas Bartilla
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Kollektives Seilhüpfen ohne Seil: Schostakowitschs „Moskau Tscherjomuschki“ als Migrationsprojekt an der Berliner Staatsoper

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Vor zweieinhalb Jahren hatten die Bregenzer Festspiele mit großem Erfolg „Paradies Moskau – Cheryomushki“ von Dmitri Schostakowitsch vorgestellt. Das 1959 uraufgeführte Zeitstück über eine Plattenbausiedlung am Rande Moskaus, mit der Chruschtschow ein neues Paradies auf Erden versprochen hatte, war von David Pountney temporeich und witzig inszeniert worden: den erstrebten Einzug in eine der Wohnungen des neuen Stadtteils Cheryomushki, holte die Realität ein, als Betonhölle ohne öffentliche Anbindung. Wenig davon ist in der Produktion der Staatsoper zu erleben.

Die 39 Revue-Nummern der in den Jahren 1957/58 entstandenen Partitur – auf ein Libretto der Humoristen Wladimir Mass und Michail Tscherwinski – arbeiten mit tonalen Melodien in bewusster Nähe zu Strauß und Offenbach, mit Zitaten von Tschaikowski und Borodin, sowie Volksliedern in strophischer Form. Den im Vergleich zu „Lady Macbeth von Mzensk“ oder „Die Nase“ völlig anderen Stil erlebt der Besucher in Berlin in einer musikalischen Bearbeitung von Ralf Böhme, die selbstredend nicht den Überdruck der groß besetzten Originalpartitur vermitteln kann, aber leider auch nicht jene Raffinesse und jenen Witz besitzt, die Gerard McBurney orchestrale Reduzierung bietet. Leider wird auch nicht die köstliche deutsche Übersetzung von Lothar Nickel verwendet, sondern eine sehr hausbackene deutsche Textfassung von Ulrike Patow.

Ausstatter Stephan von Wedel hat den quer bespielten Raum durch Abfluss-Steig- und Quer-Rohre als Skelett einer Hochhausetage strukturiert. Im zweiten Teil des Abends sind die Rohre, die sich auch herausnehmen und anderweitig als Requisiten bespielen lassen, mit Verpackungsfolie umklebt. Das Publikum sitzt zu beiden Seiten, quasi als Betrachter von der Straßen- und der Hinterseite des Neubaus. In der Nische, am Ende des Saals, quetscht sich das kleine Orchester aus Flöte, Klarinette, zwei Trompeten, Saxophon, zwei Hörnern, Posaune, Schlagwerk, sowie je einer Violine und einem Kontrabass; am anderen Ende sitzen die Mitglieder des 24-köpfigen Chores in Mao-Anzügen auf Theatergestühl. Straßenlärm wird eingespielt und Dias von Häuserwänden projiziert.

Als spielfreudiger Chor agieren die Teilnehmer am Projekt „Charlottengrad“, Jugendliche mit Mirgationshintergrund, die heute in Berlin-Charlottenburg leben. Mit farbigen Isolierbändern kleben sie individuelle Wunschformen auf die nach streng sozialistischem Wohnraumsoll vorgezeichneten Grundrisse des weißen Bühnenbodens.

Der als Film- und TV-Regisseur auf die Thematik von Migrationshintergründen spezialisierte Neco Celik setzt in seiner zweiten Operninszenierung (nach „Gegen die Wand“ in Stuttgart) auf die Jugendlichkeit der Darsteller, die kollektives Seilhüpfen ohne Seile betreiben oder sich rudelartig im Kängurugang à la Otto Waalkes vorwärts bewegen. Die Fahrt nach Tscherjomuschi in einem vom Chauffeur entwendeten Auto erfolgt als Polonaise Blankenese hinter einem Spielzeugauto her. Kunst am Bau dann bei einem Dialog eines räumlich weit entfernten Paares über sein defektes Einzugsgut: breit gedehnt, quasi als Hörspiel, so dass die Dirigentin auf Stückelschuhen es vorzieht, einen Sitzplatz aufzusuchen. Leider völlig ungelöst bleibt die köstliche Kran-Szene, in der die Einwohner – da ein anderer Zugang nicht möglich ist – per Kran in ihre Wohnung gehievt werden; dies ist beim Spiel mit einem Kleiderbügel weder logisch, noch sinnlich nachvollziehbar. Immer dann, wenn es anders schwer darzustellen ist, setzt die Inszenierung auf pantomimische Erzählweise – so etwa, wenn eine Wand durchbrochen wird, damit der Funktionär statt der obligaten zwei Zimmer den doppelten Wohnraum erhält.

Die Oper(ette)nhandlung setzt an das Ende der realsatirischen Kommunismus-Schau eine märchenhafte Utopie: die Bewohner des neuen Plattenbaus mit jeweils 27 Quadratmetern Wohnraum für dreiköpfige Familien, anstelle der zuvor üblichen Gemeinschaftsunterkünfte, errichten einen Zaubergarten mit Brunnen, der zwingt, nicht zu lügen. In der Berliner Inszenierung heißt es, „Wir bauen einen Standardzaubergarten“, UV-Schrift lässt den Begriff „Übergangsgesellschaft“ aufleuchten, eine Ikebana-Taube wird zum Schlüsselersatz, und mit farbigen Plastiktüten, Konfetti und Seifenblasen zelebrieren Soli und Chor einen Kindergeburtstag.

Die Mitglieder der Staatskapelle Berlin und der Orchesterakademie spielen exquisit sauber, aber unter der musikalischen Leitung von Ursula Stigloher mehr mit bierkapellenhafter Redundanz als mit Esprit. Trotz zahlreicher Monitore sind Sänger und Orchester häufig nicht zusammen.

Stimmlich und darstellerisch gefallen insbesondere Kap-Sung Ahn als gewitzter Liebhaber Boris und Evelin Novak als die ihrer Liebe selbst im Wege stehende Lido. Nicht ganz so prägnant das zweite Liebespaar Sascha (Michael Rapke) und Mascha (Maraike Schröder) Dramatische Töne liefern Adriane Queiroz als Ljusja und Fritz Feilhaber als Sergej. Farblos bleiben hingegen die so dankbaren Charakterrollen von Hauswart Barabaschkin (Bernhard Hansky) und Baburow (Andreas Neher), sowie – trotz roter Boxhandschuhe und später herabgelassener Hose – Kai Wegner als Funktionär Drebednjow.

Statt eines Balletts elektrischer Küchengeräte (wie in Bregenz), ist hier ein klassisches Tänzerpaar (Tatjana Zemann als weiße Ballerina auf Spitze und Marten Baum) hinzuerfunden. Als Übermarionetten bewegen sie das schwer zusammenfindende Liebespaar Boris und Lido und veranlassen die willenlosen Puppen zu einer Fellatio.

Obgleich die in Schostakowitschs drittem, abendfüllendem Musiktheater-Beitrag dargestellten Formen von Korruption, Schiebung und vielfältigem Macht- und Prestigegehabe so aktuell sind wie vor 50 Jahren, bleibt die Drastik in der Schilderung politischer Zustände in Berlin musikalisch und szenisch auf der Strecke.

Wie leider zumeist bei Werkstatt-Produktionen der Staatsoper Unter den Linden im Schiller-Theater ist das Programmheft unbefriedigend: auf 32 Seiten findet der Leser die Grußworte von Bezirksstadträtin Elfi Jantzen und Michael M. Thoss von der Allianz Kulturstiftung, sowie Betrachtungen zu Charlottenburgs Migrationsszene, Weltkarten mit den Herkunftsorten der Mitwirkenden und deren Vitae, aber fast nichts über Schostakowitschs Musik und kein Wort zum Vergleich von Original und Bearbeitung.

Weitere Aufführungen: 4., 5., 8., 9., 11., 13., 15., 17. Mai 2012
Vier der zehn Aufführungen sind als Vor- oder Nachmittagsvorstellungen angekündigt.

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