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01.09.2020 Weimar: "Wegwerfopern" von Dumbworld im Rahmen des Kunstfest Weimar. Foto: Thomas Müller
01.09.2020 Weimar: "Wegwerfopern" von Dumbworld im Rahmen des Kunstfest Weimar. Foto: Thomas Müller
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Kunstfest Weimar: Straßenopern im 15-Minuten-Takt

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Anämische Stille kann man der Klassikerstadt Weimar nicht vorwerfen. Manchmal ist hier die Hochkultur so laut wie das traditionelle Zwiebelfest oder die Partys im Kasseturm. Etwa wenn beim Kunstfest Weimar (bis 13. September) die Beschallung der „One Minute Show“ aller Sparten am vergangenen Montagabend locker vom Balkon des Deutschen Nationaltheaters bis zum einen Kilometer entfernten Neuen Museum hörbar war. Oder wenn Benny Claessens‘ Songs in der Uraufführung von Sibylle Bergs „Paul oder Im Frühling ging die Erde unter“ die Anwohner um die temporäre Spiel-Location Alte Feuerwache aus der coronalen Lethargie reißen. Beim Parcours der sieben „Wegwerfopern“ durch die Altstadt gab es vitale Musik zu Miseren jeder Art: Outdoor-Operas mit echtem Hund und falschem Alkohol – sozusagen mit feuchter Schnauze und glänzenden Augen.

Die zyklische Uraufführung aller bisher entstandenen Wegwerfopern der Nordiren Brian Irvine (Musik) und John McIlduff (Texte) war etwas ganz Besonderes neben den Themenführungen der Klassik-Stiftung und den von Kunstfest-Leiter Rolf C. Hemke gern geholten Gastspielen von performativ überformten Kunstlied-Programmen. Auch wenn sich bei Verfechter*innen der physischen Präsenz von Orchestermusiker*innen aus ästhetischen oder um den Bestand fürchtenden Gründen vermutlich die Haare sträuben. Hier ist die Wiedergabe der Einspielungen des RTÉ Concert Orchestra aus Lautsprecher-Koffern Teil des Konzepts. Der Klang ist übrigens nicht schlecht, die dirigentische Betreuung einfach und die technische Ausbalancierung hervorragend.

Das volle Vergnügen hatten nur die Flaneur*innen der beiden Abendvorstellungen, weil zwei Video-Installationen der insgesamt sieben Miniopern zwangsläufig erst nach Einbruch der Dunkelheit sichtbar werden konnten. Mit dem Parcours haperte es etwas aufgrund der Verschiebungen durch abweichende Spieldauern und unterschiedlich lange Wegstrecken zwischen den Stationen. An einigen Orten wurde die Platzkapazität begrenzt, bei anderen waren die Zugänge zu schmal für den großen Andrang und erfreulich viele Zufallsgäste ließen sich nicht auf die nächsten Runden vertrösten. Trotz des angekurbelten Inland-Tourismus war es nicht zu voll.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Die sieben Einblicke in die „Dumbworld“ – „dumme Welt“ ist ironisch, pointiert, dabei auch ernst. Sie klingen weniger nach britischer Schule aus der Familie von Benjamin Britten und Harrison Birtwistle als nach Bernstein, dessen Synkopen und über-epochales Melos sich immer mehr als wesentliches kompositorisches Erbe aus dem 20. Jahrhundert manifestiert. Vor den sonst meist mit ernestinischer Geschichte und Klassiker-Flair assoziierten Mauern und Nischen Weimars begibt sich die Musiktheater-Sparte des Deutschen Nationaltheaters in das ihr gar nicht so ungewohnte Terrain, nachdem sie kurz vor Corona mit den Uraufführungen von Ludger Vollmers „The Circle“ und Jörn Arneckes „Der Eisblumenwald“ sowie Paul Dessaus „Lanzelot“ gleich drei wichtige Überflieger innerhalb nur eines knappen Jahres gerissen hatte.

Der Chor war auch dabei und zeigte bei „Suck It In“ („Ein tiefer Zug“) im Hof des Studienzentrums der Anna-Amalia-Bibliothek, wie sich der Kalvarienberg des neoliberalen Lebens am besten ertragen lässt: Viel Alkohol, wenig Nikotin und ein gelassenes Gesicht, das vieles verbirgt und bei allen Chorsänger*innen vom stillen Alltagsleiden der von ihnen mit hängenden Blick dargestellten Everymen und -women kündet.

Als Bananenverkäuferin verstrahlt Camila Ribero-Souza umringt von drei Bananen in menschenhoher Krummform innere Würde wie Tosca. War‘s Zufall oder magischer Moment? Wie der sie begleitende weiße Hund bei ihren hohen Tönen genüsslich die Augen schließt, ist uninszenierbar. Fein auch die beiden Penner am Frauenplan („Wake Up Son“) und das ausrangierte Bügelbrett, welches am DNT im Schatten des Goethe-Schiller-Denkmals sich seiner jahrelangen Liaison mit dem in jeder Beziehung ultraheißem Bügeleisen erinnerte, bevor es seinen Weg auf die Grab- oder Müllhalde nimmt („Ironing Board Blues“).

Nichts Menschliches ist diesen Miniopern fremd, von denen eine – wenn auf dem engen Parkplatz Bornberg auch „nur“ in Video-Projektion – die Tabu-Kombination „Rollator – Sex – Mord“ genüsslich zum Eifersuchtsdrama unter Rentenempfängern aufbrechen. Also genau das Gegenteil von Goethes „Philemon und Baucis“-Episode in „Faust II“, wenn auch mit (fast) ähnlichem Resultat. Am schönsten geriet das eher stille Stück „To Do List“: Der dürre Wortwechsel eines Paares offenbart in den Pausen die Glück- und Lieblosigkeit langer Ehejahre. Keine zwei Meter weiter plant beider Sohn den Entzug von Drogen- und Pornosucht, aber klar ist: Nichts wird sich ändern. Kein besseres Bühnenbild könnte es dazu geben als den spätsommerlich üppigen Herdergarten. Auch für Anfänger war das Musiktheater mit beträchtlichen Werbeeffekten – und mit Zukunft. Rolf C. Hemke und sein Team wissen, wie Neue Oper funktionieren kann – inklusive eines funktionierenden Hygienekonzepts. Gefallen hatte das offenbar Allen.

  • Dumbworld – „Wegwerfopern“ – Ironischer Musiktheater-Zyklus in sieben Teilen für den öffentlichen Raum (Zyklische Uraufführung) – Mi 01.09./13:00 und 19:30 – Mi 02.09./19:30 Kunstfest Weimar / Historische Altstadt / Eintritt frei
  • KURZOPERN: TWO ANGELS PLAY I SPY / TO DO LIST / WAKE UP SON / SUCK IT IN / DRIVE BY SHOOTING / I JUST SELL BANANAS / IRONING BOARD
  • KOMPONIST: BRIAN IRVINE - LIBRETTO & REGIE: JOHN MCILDUFF
  • SOUNDTRACK: RTÉ CONCERT ORCHESTRA - DIRIGENT: FERGUS SHEIL - KOSTÜM: CLODAGH DEEGAN - VIDEO: CONAN MCIVOR (TWO ANGELS PLAY I SPY), KILLIAN WATERS (DRIVE BY SHOOTING) - ÜBERSETZUNG ÜBERTITEL: ULRIKE SYHA
  • MIT: CAMILA RIBERO-SOUZA, SILVIA SCHNEIDER, KATRIN NIEMANN, ELKE SOBE (I JUST SELL BANANAS), SAYAKA SHIGESHIMA, ALIK ABDUKAYUMOV, OLEKSANDR PUSHNIAK (TO DO LIST), ALEXANDER GÜNTHER (WAKE UP SON), OPERNCHOR DES DNT (SUCK IT IN), STATISTERIE DES DNT (IRONING BOARD BLUES), AMY NI FHERRAIGH, PHILIP KEEGAN (TWO ANGELS PLAY I SPY), SYLVIA O'BRIEN, DOREEN CURRAN, DAN REARDON (DRIVE BY SHOOTING) - CHOREINSTUDIERUNG: EMANUEL WINTER - MUSIKALISCHE STUDIENLEITUNG: DIRK SOBE
  • PRODUKTION: DUMBWORLD, IRISH NATIONAL OPERA
  • KOPRODUKTION: KUNSTFEST WEIMAR, DEUTSCHES NATIONALTHEATER & STAATSKAPELLE WEIMAR
  • FÖRDERUNG: STAATSKANZLEI THÜRINGEN, ARTS COUNCIL OF NORTHERN IRELAND, THE ARTS COUNCIL (AN CHOMHAIRLE EALAÍON)
     

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