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Theo Geißler. Foto: Charlotte Oswald
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Kurz-Schluss – Wie ich einmal über meine vermeintlich überlegene Kompetenz stolperte und einen Bildschirm verlor ...

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Auch meine Karriere als Nachtwächter auf dem weitgehend verödeten Gelände des Bayerischen Rundfunks in München-Freimann (Näheres: P&K 6/20) endete rasch. Trotz mehrfacher Übermittlung meiner Kontodaten und einschlägiger Drohbriefe an die Intendanz des Senders („unbekannt verzogen“) und das bayerische Kultusministerium („verbitten uns bei Strafandrohung weitere Belästigungen“) fühlte sich für die Besoldung meiner Dienstleistungen keine der ursprünglich auftraggebenden Instanzen verantwortlich. Existenziell rettende Ideen fand ich dann in meiner Lieblings-Postille, der „Brezel-Umschau“ – einer Konditoren-Fachzeitschrift. Hier wurde ausführlich die bürgerfreundlich abgeschirmte Schutz- und Kommunikationsfunktion der sogenannten Corona-Warn-App beschrieben – mit zahlreichen weiterführenden Links und Hinweisen für distanzsichernde Thekenbewirtschaftung.

Wie Sie als langjährige treue Leserschaft meiner semibiografischen Fortsetzungs-Romanze an dieser Stelle natürlich wissen, zählen Informationstechnik in Verbindung mit künstlicher Intelligenz zu den zentralen Kompetenzen meines breitgefächerten Kreativspektrums. Deshalb verstehen Sie sicherlich, dass mich die mit dieser Open-Source-App betriebene Vergeudung politisch und wirtschaftlich höchst interessanter Details über individuelle Bewegungsprofile, private Datenbanken oder Mailkontakte außerordentlich verwunderte. Aus meiner Frühzeit als gekaufter Journalist des Innenministeriums standen mir dank der Tatsache, dass aus Etatgründen und der „Nostalgie“ des amtierenden Ministers in diesem Haus an etlichen systemrelevanten Stellen immer noch unter „Windows 95“ gearbeitet wird, Schlupflöcher in die zentralen Server fast aller Abteilungen offen.

Dank meiner im Darknet günstig erstandenen Schnüffelprogramme namens „Open Sesam“ eröffnete sich mir ein Abgrund an Landesverrat. Längst hatten sich offensichtlich die Spionage-Spinnenfäden eines Netzwerkes mit dem Tarnnamen „Augustus der Starke“ im gesamten Informationsverbund von Ministerien und Geheimdiensten festgesetzt. Anonyme Abgreif-Avatare, in ihrer internen Kommunikation mit gefälschten Kennungen wie Amthor, Maaßen, Höcke, Gottschalk oder Guttenberg operierend, schöpften an Daten ab, was international für die Bereiche Rüstung, Bildung, Wirtschaft und Kultur pro Bundesbürger verkäuflich und von Interesse schien. Gegen all dies wirkte auf mich der Schutzwirbel um die Corona-App wie ein Föhnlüftlein gegen einen Hurrikan.

Drei Fakten gaben mir allerdings zu denken: Zum einen, dass ich mich trotz meines gefährlichen Wissens noch relativ guter Gesundheit erfreute. Zweitens schien dieses Hyper-Netz ein in sich geschlossenes System zu sein, dessen Infosektoren Bildung und Wirtschaft mit Datum Januar 2020 grund- und kommentarlos abschlossen. Drittens verblieben mit den Feldern Rüstung und Kultur ausgerechnet die offensichtlich teils besonders empfindlichen, werthaltigen und die technologisch am wenigsten attraktiven gesellschaftlichen Bereiche aktiv für die Datenräuber. Um entweder in den Genuss einer kleinen Belohnung oder eines bescheidenen Schweigegeldes zu gelangen, musste ich die eigentlichen Nutznießer dieser unglaublich professionell entwickelten Wissensdatensammlung enttarnen, möglichst ohne mich selbst zu offenbaren.

Also schürfte ich mich versteckt hinter einem Avatar namens Pestalozzi unauffällig zunächst in den Bildungs-Stream. Abgesehen von einer Fülle für mich völlig unverständlicher Formeln, vermutlich chinesischer, russischer und amerikanischer Texte, flackerten mir plötzlich offensichtlich Wirtschaftsdaten von Firmen, deren Namen ich trotz unglaublicher angegebener Börsenwerte noch nie gehört hatte, entgegen. Und schließlich das Foto eines romantischen Schlösschens samt Text: „Sie befinden sich im geschlossenen Forschungsarchiv der wirtschaftswissenschaftlich-pädagogischen Privatuniversität Hundsrück-Wirrsaal. Wie Sie gesehen haben, liegen die Testergebnisse unseres Feldversuches ›Bildung ist drei Viertel Wirtschaft – MINT gewinnt‹ vor und brachten die erwartet erfreulichen Ergebnisse. Wir danken unserer Bundeskanzlerin für die üppige Unterstützung, die wir auf deren Wunsch leider nicht öffentlich machen dürfen“.

Mist, dachte ich. Da musste ich an irgendeiner unscheinbaren Gabelung im Netz falsch abgebogen sein. Mühsam und Terabyte für Terabyte robbte ich den erfreulicherweise ruhenden Datenstrom zurück und landete, mitgerissen von einem wilden Stream – offensichtlich in der Zentralregie eines riesigen Filmstudios. Mächtige Schriftzüge – Sony, Alibaba, Warner, Broccoli – flimmerten über meinen Desktop. Und: „James Bond – das Ende ist immer bitter“ – „Ausrüstung für Schlussteil Nummer 26: nordkoreanische Atomzentrale“. Mir kamen fast die Tränen. „Sie befinden sich in der Fein-Montage, die Dreharbeiten sind momentan unterbrochen, weil die von der deutschen Kulturstaatsministerin Monika Grütters zugesagten neun Milliarden Euro Produktionshilfe noch nicht eingegangen sind“, informierte mich ein mit Action-Szenen unterlegtes Laufband. „Spenden für die Produktion von Teil 27: ‚Jane Bond – die Welt wird Frau‘ – nehmen die vereinigten Apple-Google-Windows-Studios via Paypal und Wirecard gern entgegen.“

Gerade wollte ich meinen Bildschirm aus dem Fenster werfen, da sah ich noch einen grinsenden Totenschädel, der mit tiefer Stimme brummte: Du bist offen, Sesam ist zu… eine kleine Info zum Thema „Darknet“ …

  • Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur

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