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Theo Geißler. Foto: Hufner
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Kurz-Schluss – Wie ich einmal (vergeblich) versuchte, das deutsche Bildungssystem wenigstens an internationale Standards heranzuführen

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Was waren das für gemütliche Zeiten in meiner dörflichen Zwergschule Mitte der 1950er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. 39 Schüler, drei Klassenstufen in einem Raum. Zum Einschwingen in den Stundenrhythmus – die Bayernhymne. Dann grell quietschende Schiefertafeln, Sütterlin als Zweitschrift, ein Setzkasten, in dem dauernd die E‘s fehlten. Strenge Lehrerinnen, versiert mit dem Tatzenstock Schülerhändchen Hornhaut anzutrainieren. Strenge Lehrer, schnell bei der Hand wenn es galt, mit dem Lineal gestochen scharfe Scheitel zu ziehen oder aufmerksame Stille durch Kopfnuss-Verteilen zu erzielen. Früh begann also die charakterliche Bildung, die intellektuelle folgte dank zweier Ehrenrunden im Gymnasium und dem 20-semestrigen Germanistik- und Philosophiestudium mit immerhin eingeschränktem Abschluss. Sonst wäre aus mir schier gar nichts geworden. Ich brauchte einfach Zeit.

Die ist heutzutage bekanntlich Bargeld. Insofern hat sich unser Bildungssystem dem Bedarf nach beschleunigter Nutzung des Humankapitals für gewinnoptimierte Werktätigkeiten aller Art im Sauseschritt anzupassen. Blöd bloß, dass als Voraussetzung für Dauerwachstum beschleunigende Umfeldfaktoren, viele Menschen und manch Material mit den Fortschritten der Prozessorengeschwindigkeit nicht so recht mithalten können. Ganz zu schweigen vom Ausbildungstempo der vorwiegend betriebswirtschaftlich oder technokratisch orientierten Exzellenz-Studierenden. Augenscheinlich haben unsere politischen Systemadministratoren die Notwendigkeit konsequenter Brut- und Nachwuchspflege aufgrund ihrer Sucht nach wählerschmeichelndem Erfolg lange Zeit übersehen. Landauf, landab fehlen tausende Kitaplätze und entsprechend viel qualifiziertes Personal. Bundesweit mangelt es an Schulraum, an Lehrkräften. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern dümpeln wir regelmäßig im unteren Mittelfeld.

Tja, wo die Not am Größten ist, weiß z. B. Berlins Multi-Senatorin für Jugend, Bildung und Wissenschaft, Sandra Scheeres (SPD), trickreich Rettung. So verringert sie das in den kommenden Jahren errechnete Berliner Schulraum-Defizit für 25.000 Schülerinnen und Schüler mithilfe eines zauberischen Divisionsverfahrens angeblich aus der Harry-Potter-Bibel auf künftig maximal 9.000 Freiluft-Lernende. Und auch für die gibt es Dächer über dem Kopf: Die mit dem gordischen Blockflötenknoten des Deutschen Musikrates und der Neuen Musikzeitung schon vor zwei Jahren wegen chronischer Ratlosigkeit ausgezeichnete Politikerin sieht Land: So hat sie zwei, drei Hausmeister-Wohnungen in Stadtrand-Lehrstätten entdeckt, die mit wenig Aufwand in Klassenzimmer umgestylt werden könnten. Nebenbei: Das Schul-Schiff Gorch Fock steht kurz vor der Fertigstellung. Wir raten ferner generell zur Umrüstung der Toiletten in Unisex-Klos oder den Zwang zur Freiluft-Entleerung. Das schafft pro Schule mindestens Platz für 60 bis 80 Lernwillige. 

Letzteres ist allerdings nicht vereinbar mit dem Plan, noch vorhandene Schulhöfe und angrenzende Parks mit billig zu erstehenden Baucontainern dicht aufzufüllen, die sich auch heizen ließen und ein üppiges Raumkontingent böten. Hochbau-Maßnahmen an Schulgebäuden mit dem Ziel, zehn bis zwölf Stockwerke zu gewinnen, wäre auch noch denkbar – aber deutlich teurer. Allerdings wie man sieht: Probleme tauchen auf, um gelöst zu werden. Und schärfen sie nicht letztlich unsere schöpferische Kompetenz, schaffen Arbeitsplätze und gerade für das darbende Baugewerbe schöne Zukunftsperspektiven? Als Innovations-Inkubator drängt sich eine alte Fantasie Erich Kästners (hat sich mein Germanistik-Studium doch gelohnt) geradezu auf: „Das fliegende Klassenzimmer“. Natürlich mit Öko-Strom betriebene Drohnen hieven vom Feld des zum Pädagogik-Zentrum umgewidmeten BER Schulgondeln in die Lüfte. Nebeneffekt: Unsere Kinder genießen für einige Stunden Frischluft statt verpesteten Stadt-Gestank. Genial was?

Ungelöst scheint allerdings noch das Betreuungs- und Lehrkräfte-Problem. Doch auch hier sind griffige Rettungsmaßnahmen bereits eingeleitet. Am sozial attraktivsten: die unbezahlte freiwillige Mehrarbeit unserer Pädagoginnen und Pädagogen. Eine Verdopplung des bislang abgeleisteten Stundendeputates scheint angesichts der zahlreichen Sonn-, Feier- und Ferientage kaum belastend und wahrlich zumutbar. Verbunden damit natürlich eine vorsichtige Anhebung des Rentenalters auf 80 Lebensjahre. Ferner ist das Potenzial an vielseitigen Nichtsmehr-Tuern riesig, wie uns einschlägige Quiz-Shows im Öffentlich-Rechtlichen täglich mehrfach beweisen. Bei Eintritt in den Schuldienst: Verdopplung der Gewinnchancen – ist doch fair. Jedenfalls zur Verfügung stehen Tausende leicht aufzurüstende Staubsauger-Roboter und Elektroroller, deren künstliche Intelligenz der menschlichen eines üblichen Grundschullehrers mit einem finanziellen Einsatz von ca. 80 Euro (Raspberry pi 4) anzupassen wäre (und die Pension fällt auch weg). Bin gespannt, wann die ersten voll digitalen humanoiden Bots ihre eigenen Nachbauten so effektiv und schlau machen wie das Komplettwissen unserer Welt. Wird der Mensch dann zyklisch konsequent wieder zum Rohstoff?

Was bin ich neidisch, dass ich nicht in den Genuss solch progressiver Bildungschancen gekommen bin, was alles hätte aus mir werden können …


Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur

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