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Theo Geißler. Foto: Charlotte Oswald
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Theos Kurz-Schluss – Wie ich einmal vom Möchtegern-Distanzunterrichts-Pädagogen aus Versehen zum höchst gefährdeten Mitwisser wurde

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Nein, es war beileibe keine Schnapsidee. Die Zeiten inspirierenden Bärwurz-Genusses sind leberwert-bedingt längst vorbei. Eher schon war meine bildungspolitisch grundsätzlich phänomenale Idee dem ministerialen Papierkorb mit der Aufschrift „Gut gemeint ist längst noch nicht gut gemacht“ völlig ungerechtfertigter Weise – das sei vorweggenommen – zum Opfer gefallen. Auf dringender Suche nach einem kleinen Nebenverdienst – natürlich auf sinnstiftender Basis – entwickelte ich erfrischende Möglichkeiten, den im Distanzunterricht ohnedies sträflich vernachlässigten Geschichtsunterricht – beginnend bei unseren griechisch-demokratischen Wurzeln – dank Verknüpfung mit aktuellen Ereignissen auch für unsere Digital Natives supi aufzubrezeln. [Vorabdruck aus Politik & Kultur 2021/04]

Logo, dass ich ideologisch clean und in der Hoffnung auf angemessene materielle Würdigung mal mit den Heldentaten unserer tollen Kanzlerin, gebettet in zauberischem humanistischem Kontext, begann. Und das las sich im Entwurf des Schülerheftes für die Mittelstufe, das ich dem dritten Sekretär des zuständigen Referenten für Vermittlung aktueller zeitgeschichtlicher Phänomene in einem – wie Sie später verstehen werden – hier aus guten Gründen nicht genannten Kultusministerium präsentieren durfte, ungefähr so:

„Wir schaffen das“ – prophezeite die seinerzeit grob gescholtene Pythia des Deutschen Bundestages, Angela Merkel, vor etlichen Jahren zu Zeiten millionenfachen Flüchtlingsandranges in unsere wirtschaftswunderliche Bundesrepublik. Und es ahnte die Seherin, gewissermaßen ihrer klassischen Vorbild-Prophetin aus Delphi ebenbürtig – trotz oder dank all der giftigen Dämpfe, die populistische Miesmacher generierten, ein Stück unverhoffter Realität im Voraus. In geschärften physikalischen Bewusstseinszuständen geborgen und innerlich abgeschottet im Adyton der Bundespressekonferenz auf einem Dreifuß über ein Glaskugel-Mikrofon gebeugt, beantwortete die bundesrepublikanische Pythia auf Grundlage ihrer weitsichtigen Erkenntnisse die bohrenden Fragen der grausamen Journaille voll guter Hoffnung. Weil offensichtlich genügend Raum für die Geflüchteten aus südlichen und östlichen Notwüsten hierzuland vorhanden war. Doch dann folgte – (Achtung: schlüssige Erweiterung und Aktualisierung des Blickes samt geschichtlicher Zusatzinformation, pädagogisch besonders wertvoll) eine Verwandlung der Pythia zur Kassandra. Es gab zwar – außer Armin Laschet, nähere Infos via Wikipedia – keinen Apoll, den sie racheentfachend zurückgewiesen hätte. Dennoch klang ihr Kassandraruf verflucht, verzweifelt und grässlich: Sie verhieß ein Vierteljahr vor dem Seuchengipfel zwanzigtausendfache virale wöchentliche Brutal-Inzidenz: Ein düsteres letztjähriges Weihnachtsdilemma, das ihre bundesländliche Dienerschaft aus Gier, Dummheit oder populistischem Opportunismus ignorierte. Mit der bitteren Konsequenz, dass Urlaubsreisen z. B.  nach Malle oder Ferien und Feste  –Ostern, Pfingsten, Weihnachten – künftig schlicht flachfielen…

Mit einem schnorchelnden Röchler schreckte der offensichtlich aufgrund intellektueller Überforderung kurz weggetretene Sekretär hoch, bat um eine kurze Pause, nuschelte in sein Mobi und bat mich dann, ihm zu folgen. Auf dem Weg in den Keller erklärte er mir, dass mein Konzept viel zu düster sei, ihm allerdings mein dauerknurrender Magen aufgefallen wäre. Zufällig gäbe es in der Abteilung für digitale Schüler­überwachung gerade eine freie Hilfskontrolleursstelle  auf Mindestlohn-Basis. Mein Arbeitsplatz sei im zweiten Untergeschoss der 486er-Computer mit dem Röhrenbildschirm neben der Herrentoilette. Zugangscode abcdefg. Es gelte in einem System namens Möbius oder so ähnlich Hausaufgaben der ersten und zweiten Klassen in den Grundrechenarten im Zahlenraum bis 50 zu korrigieren. Das traue er mir zu.

Leider war ich wie eingangs angedeutet in der Tat nicht in der Situation, irgendeine mögliche Geldquelle – und sei sie noch so armselig tröpfelnd – abzuwürgen. Also klemmte ich mich vor die Flacker-Röhre und gab das Passwort ein, aus Versehen mit einem zusätzlichen „h“ am Ende. Statt irgendwelcher Rechenaufgaben oder Schülernamen öffnete sich ein Tor-Browser samt Verzeichnis-Stamm mit drei Unterkatalogen: Angebote, Kontakte, Suche und Finde. Nicht faul klickte ich den Angebots-Ordner an – Sesam öffnete sich und lieferte: Abituraufgaben 2021, 2022 für diverse Fächer, am billigsten Musik (1/1000 Bitcoin), mittelpreisig Deutsch (1/500 Bitcoin) am teuersten Betriebswirtschaft und Wirtschaftsmathe (1/20 Bitcoin). Typisch, dachte ich – und machte mich über die „Kontakte“ her. Die waren untergliedert in Bundestags- und Landtagsabgeordnete. Jeweils mit voller Adresse, Handynummer und Staffelpreisen je nach Firmenumsatz und Lobby-Intensität, gemessen am wirtschaftlichen Erfolg.  Sauber, dachte ich, vielleicht ist für mich ja was bei „Suche und Finde“ dabei. Weder an Drogen (dreihundert Angebote) noch an Waffen (ca. 8.000 Angebote von Derringer bis Minuteman) war ich interessiert, gespannt aber auf den Ordner „Medizinisches“ (ca. 1.240.000 Angebote). Wahnsinn. Für je einen Bitcoin pro Person gab es die „Impfdosis nach Wunsch“ – ein „Gesundheitsangebot“ der „Arbeitsgemeinschaft für Deutsches“. Fast hätte ich das Sirenensignal überhört und das Stiefelgetrappel auf der Kellertreppe. Ich flüchtete in die sogenannte Herrentoilette, die sich als Besenkammer ohne Ausweg erwies – und zitterte dem „Gesundheitsangebot“ entgegen …

Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur

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