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Foto: Roland H. Dippel.
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Leger und intensiv: Köthener Bachfesttage 2020

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Folkert Uhde übernahm 2015 von Hans Georg Schäfer die Leitung der alle zwei Jahre Anfang September stattfindenden Köthener Bachfesttage. Seither musste sich einiges ändern. Uhde verjüngte das Publikum des kompaktesten der mitteldeutschen Bach-Festivals und punktet mit Nähe statt mit urbanen Softskills. So kamen die Köthener Bachfesttage verhältnismäßig unbeschadet durch die Corona-Krise. Roland H. Dippel war am zweiten der fünf Festival-Tage 11 Stunden in Köthen. Eine Impression.

Uhde schärft Ohren und Augen für das Wesentliche, also für die Musik und eine Region mit kulturellen Überraschungen. An deren Ausstrahlungskraft könnte sich bald etwas ändern: Die Kulturinitiative Köthen 17_23 wird in den nächsten vier Jahren mit insgesamt 1,25 Mio. Euro im Modellprogramm „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“ der Kulturstiftung des Bundes gefördert.

„Leidenschaftlich familliär“ ist in Köthen mehr als ein Motto. Zweifellos könnte man die mitteldeutsche und internationale Bachfamilie als Stammesverband betrachten, die auch weniger günstige Umstände nicht zerstreuen. Die alle zwei Jahre stattfindenden Köthener Bachfesttage sind nicht das Leipziger Bachfest und auch nicht die Thüringer Bachwochen im Bachland. Festival-Ausflügler haben es an einem Werktag vor dem Wochenendansturm Richtung Köthen allerdings nicht ganz leicht. Der Busfahrer im Bus der Linie 400 von Bitterfeld-Wolfen nach Großpaschleben, auf dessen Strecke Köthen liegt, und seine Begleiterin wissen nichts von dem fünftägigen Festival, das internationale Gäste in das frühere Residenz-Juwel lockt. Wirkte die Stadt an einem spätherbstlichen Nebeltag vor zwei Jahren noch wie im Dornröschen-Schlaf, so sieht man an diesem luxuriös sonnigen 3. September vieles genauer. Der demographische Wandel frisst sich ins Stadtbild. In einigen Zentrumsstraßen dominiert Geschäftsleerstand, an nach 1990 renovierten Bauten rollen sich Fassadenfarben und blättern. Den Halleschen Turm ziert ein Goofy-Smiley. Aus der Bachstadt Köthen stammen auch die Komponisten Carl Friedrich Abel und August Klughardt.

Eine rot geteerte Straße durchbricht wie eine Grenzlinie die Areale des Zentrums und des großen Schlosskomplexes, wo Bach bei Fürst Leopold von Anhalt-Köthen von 1717 bis 1723 als Kapellmeister in Diensten stand. Das motiviert ortskundige KfZ-Nutzer zur wenig idyllischen und nicht ganz ungefährlichen Beschleunigung. Zwei an der Schlossmauer parkenden Busse eines auf Konzertreisen spezialisierten niederländischen Reiseunternehmens wirken wie Bollwerke hartnäckiger Schöngeister gegen alle Gegner. Also gibt es sie in ermutigender Zahl: Gäste, welche im Corona-Jahr 2020 die bis zu fünf Mal stattfindenden Konzerte mit Aufmerksamkeit, Freude und Liebe besuchen. Am Abend im Johann-Sebastian-Bach-Saal, bei den Auftritten der Sopranistin Hana Blažíková mit dem Köthener BachCollektiv, dem bei den Bachfesttagen und vorausgehenden Probentagen anwesenden Residenzorchester des Festivals, ist das Publikum bunter. Am Vortag spielte Ragna Schirmer von 15.00 bis 23.00 Uhr insgesamt fünfmal Bachs Goldberg-Variationen. Auch bei der ohne Wiederholungen ‚nur‘ 50-minütigen Dauer je Durchlauf ist das eine imponierende Kunst- und Konditionsleistung.

Mindestens drei feine Konzert-Locations gibt es in Köthen, das Prinzenpalais mit der fürstlichen Sammlung barocker Originalinstrumente nicht mitgerechnet: Die Agnus-Kirche, den kleineren und auch als Vortragsraum geeigneten Wilhelm-Friedemann-Bach-Saal sowie den Johann-Sebastian-Bach-Saal mit den an die Fenster gesetzten, der guten Akustik förderlichen Holzsprossen. Im Vergleich mit anderen Städten dieser Größe ist in Köthen also kein Mangel an angemessenen Orten.

Seit 2015 amtiert Folkert Uhde als künstlerischer Leiter und wurde sozusagen glücklicher Halb-Köthener, der mit Unterstützung der (Köthener) Bachgesellschaft, des Kulturamts der Musikschule und der 2007 nach Vorbild der ersten deutschen Sprachgesellschaft hier reaktivierten Fruchtbringenden Gesellschaft an einem Strang zieht. Mehr als eine Überraschung beinhaltet das einstündige Gespräch mit ihm. Uhde intoniert auch in mehrfach über den Tag stattfindenden Begegnungen kein einziges Mal den Corona-Blues, ist beflügelt von strategischer Lust und verzichtet auf das Schmettern kulturbetrieblicher Kennzahlen. Ihm geht es mindestens genauso viel um Teamgeist im kleinen Personalstamm und einiger Helfer*innen wie um Musik. Mit Ankündigungen und Moderationen ereignet sich diese, trotz Corona, in fast greifbarer Nähe und ohne Austricksen von Hygieneverordnungen – etwa die „Neuen Abel-Trios“ mit Thomas Fritzsch (Viola da gamba), Dorothea Vogel (Violine) und Shalev Ad-El (Cembalo) oder das „Musikalische Gipfeltreffen“ von Christine Schornsheim (Cembalo und Clavichord) mit Joachim Held (Laute). Die minimierten Platzzahlen schlagen weder auf die Stimmung noch auf‘s Gemüt, die Konzert-Atmosphäre erweist sich demgemäß als voll immunisiert. Anders als andere Patchwork-Verbände ist der Stammesverband der Bachfamilie noch lange vor Dezimierung sicher. Dass die editorische Abenteuergeschichte der aufgeführten ‚neuen‘ bzw. wiederentdeckten Abel-Trios etwas verpuffte, lag nicht an Ambiente.

Überhaupt operiert Uhde, der Erfinder des in vielfacher Hinsicht sinnstiftendes Worts ‚Konzertdesign‘, mit den einfachsten Mitteln. Es gibt keine Programmzettel, dafür Plastiktafeln mit den erklingenden Werkfolgen auf Notenständern. Ein großer Flyer ist das einzige Printerzeugnis. Hier moderiert der Chef nur im Ausnahmefall, umso intensiver dialogisieren die Mitwirkenden. Die Lokalpresse zieht mit wie an anderen Orten schon lange nicht mehr. Und zum am Donnerstagabend von Regen bedrohten Orgelkonzert soll die eigens für die Bachfesttage kreierte Biersorte „Giovanni“ – mit diesem Namen gurrte Hofsängerin Anna Magdalena Bach nach ihrem genialen Gatten – Festivalgäste und Einheimische zusammenbringen. Letztere sind jedoch zu Einbruch der Dunkelheit auf dem Marktplatz weitgehend unsichtbar. Beim 10-minütigen Fußweg zum Bahnhof – vorbei an der Uhr mit der nostalgischen Persil-Werbung – kreuzt kein anderer Passant die Schritte des musikalisch wohlgesättigten Bach-Pilgers.

Uhdes jüngstes Erfolgserlebnis ereignete sich in der 13 km nördlich von Köthen gelegene Stadt Aken. Die Häuser dort sind niedriger als in Köthen – auch bunter. Die Kleinstadt holt sich Image und Mehrwert nicht nur als Knotenpunkt des Elberadwegs und des Europaradwegs R1, sondern hat auch ein ein bisschen freches Flair wie ein niederländischer Küstenort. Dort feierten die Bachfesttage am Nachmittag ihr Debütkonzert. Bürgermeister, Repräsentanten und aufgeschlossene Honoratioren waren da. Die Herren des Signum Saxophon Quartet brachten eine mitreißende Stimmung in die gotische Marienkirche, wobei Bach hier vor allem zum Präludium ohne Fuge und eine Steilvorlage für Philip Glass und Alberto Ginastera wurde. Ovationen.

„Leidenschaftlich familiär!“ bedeutet auch, dass man ohne Fliege und Brosche zu den musikalischen Mahlzeiten erscheinen darf und einem kein Strick daraus gedreht wird. Am Ende des Besuchs bei den Bach-Festtagen ist man dem Originalgenie Bach ein kräftiges Stück näher, gerade weil man ohne das Überwinden eines Marketing-Panzers, für den dort Geld, Zeit und Personal fehlen, ganz schnell ans Ziel seiner Wünsche gelangt – nämlich Musik und Enthusiasmus. Historisch informierte Aufführungspraxis klingt in Köthen auch in der dritten und vierten Konzertrunde weder routiniert noch angestrengt, sondern mit heiterer Entspanntheit. Nichts zu hören vom expressiven Überdruck, mit dem bei anderen Alte-Musik-Festivals das Podium manchmal zum Originalitätswettkampf mutiert. Ein so tiefes Stück wie die Kantate „Mein Herze schwimmet in Blut“ von der gar wunderbaren Hana Blažíková und der ihr ebenbürtigen Oboistin Clara Blessing zu hören, wäre auch an touristischen Hotspots im Premium-Level. Zum Abschluss der Bachfesttage gastierte der Händelpreis-Empfänger Valer Sabadus, dessen Kür am 6. Juni in Halle Corona-bedingt ‚nur‘ digital erfolgte. Die Protagonisten der mitteldeutschen Barockmusik halten demzufolge fest zusammen.

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