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Lesarten der Landesgeschichte: Christoph Ogiermanns „Selbstermächtigungsgesetze“ im Stuttgarter Haus der Geschichte

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Demokratisierung und Bürgerbeteiligung sind Stichworte, die gerade in Stuttgart neuerdings alle im Munde führen. Christoph Ogiermanns Aufführung mit 100 Schülern im Haus der Geschichte versteht sich – so die Ankündigung – als „ein mit multiplen Klängen aufgeladener künstlerischer Kommentar zur jüngsten Geschichte der Menschen unseres Landes“.

Der Blick auf die eigene Geschichte beginnt in Baden-Württemberg immer noch mit den Monarchen. Jedenfalls inszeniert das Haus der Geschichte in Stuttgart seinen Rundgang, unter medialem Blinken, mit dem Aufstieg über eine fingierte Marmortreppe zu den Porträts König Friedrichs I. von Württemberg und Großherzog Karl Friedrichs von Baden, bevor das erste Geschoss eine Geschichte von Revolutionen, Umstürzen und Demokratiebewegungen erzählt. Etwas anders zeichnet Christoph Ogiermann, zum 60. Landesjubiläum und zehnjährigen Bestehen des Museums, diese Geschichte musikalisch nach.

Am Anfang singen die vier Neuen Vocalsolisten am Fuß der Treppe – streng nach Partitur. Was in der klassischen Musik als selbstverständlich gilt, nämlich die einseitig gerichtete Kommunikation des Komponisten zum passiv rezipierenden Publikum über die korrekte Interpretation des Notentexts durch die disziplinierten Sänger, ist bei Ogiermann das musikalische Äquivalent zum Absolutismus. Aber die Stimmen vervielfältigen sich. Auch wenn Susanne Leitz-Lorey, Truike van der Poel, Martin Nagy und Andreas Fischer gerade mal nicht den Mund aufmachen, wandern ihre Stimmen auf acht Kanälen durch den Raum. Ogiermann selbst lenkt wie ein DJ am Mischpult das musikalische Geschehen und spielt dazu an der Seitenwand das über Youtube verbreitete Video „Il massacro di Gradisca“ ein: Nach einem Aufstand oder Fluchtversuch hatten Polizei und Militärs Immigranten im „Zentrum der Identifikation und Ausweisung“ der norditalienischen Stadt Gradisca d’Isonzo schwere Verletzungen zugefügt. Niemand ist gezwungen hinzusehen, und doch weiß jeder, was sich am Rande nicht nur dieser einen Aufführung, sondern unserer wohl geordneten Welt, in der man abends ins Konzert geht, abspielt.

Ein lautes, sirenenartiges Schwirren kündigt an, dass es oben weitergeht. Nun sind die 100 Schülerinnen und Schüler gefragt. Sie kommen aus den Klassenstufen 8 bis 10 zweier Gymnasien und einer Werkrealschule sowie vom Jugendsinfonieorchester Ludwigsburg und haben jeder einen Bauchladen mit verschiedenen Geräuscherzeugern umgehängt: Luftballons, Pappen, kleine Feilen, Milchschaumschläger. Das Publikum ist aufgefordert, sich an ihnen entlang durch den engen Parcours der Museumspräsentation zu bewegen. Die Schüler haben dazu eine Partitur mit 60 kleinen, in Symbolen und Buchstaben aufgezeichneten Handlungsanweisungen vor sich.

Es beginnt zum Beispiel mit der Anweisung: nichts tun, bis alle nichts tun. Wann jeder einzelne von einer Szene zur nächsten wechselt, bleibt ihm selbst überlassen. Die vorangestellte Aufforderung an die Zuhörerschaft, in Bewegung zu bleiben, funktioniert nur bedingt. Alle müssen die Reihe der Schüler passieren, sind sie aber am Ende angelangt, bleiben sie stehen und die Schlange gerät ins Stocken. Viele Foto- und Videokameras stören die Konzentration. Der Museumsdirektor unterhält sich ungerührt mit einer Assistentin. Ist diese Offenheit gewollt, Teil der Selbstermächtigungsprozesse, oder stört solche Undiszipliniertheit nicht eher die Aufführung? Wenn nicht nur die Schüler, sondern auch die Zuhörer manchmal lachen, als sei alles ein Scherz und keine musikalisches Werk: lockert dies die Atmosphäre oder signalisiert es den Schülern, dass ihre Bemühungen nicht ernst zu nehmen sind?

In der zweiten Etage darf jeder Zuhörer auf einem Stuhl Platz nehmen und wird dann von einer Gruppe von Schülern bespielt. – „Augen zu!“ Ein Meer von Klängen, weiter weg und ganz nah, sehr genau zu lokalisieren, manchmal nur 10 Zentimeter vom Ohr, alles improvisiert: Die Schüler können tun, was sie wollen. Die Zuhörer auch: einem anderen Platz machen oder sitzenbleiben. Das dauert gefühlt sehr lang, wird aber nicht langweilig: ein unvergleichliches Hörerlebnis. Eher bleibt ein Rest Unsicherheit, weil die Szenerie, wie die vier anderen des Abends, in sich zwar bewegt, aber ohne Richtung ist und im Prinzip beliebig lang dauern könnte.

Schließlich wird das Ende angekündigt. „Und, wie war’s?“ – Es folgt der vorletzte Akt, in dem die Schüler CD- und MP3-Player durch den Raum tragen, die Klänge aus öffentlichen Ereignissen der Landesgeschichte von sich geben, fragmentiert, musikalisch kommentiert und neu zusammengesetzt vom Komponisten. Dazu gehen die vier Vocalsolisten durch den Raum, sprechen Satzfragmente – nicht laut – wie Bruchstücke eines inneren Monologs in die Mikrophone blechiger Sprachrohre, während der Abstieg über die lange Seitentreppe zurück auf die Erdgeschossebene beginnt. Hier bekommen die Zuhörer die Abspielgeräte in die Hände gedrückt, wahrend die Vocalsolisten zunehmend längere Texte intonieren, vom Komponisten schwungvoll live-elektronisch bearbeitet, und sich die Schüler auf der Treppe aufbauen.

Im finalen Satz ist also alles, wie es war, die Machtverhältnisse sind unverändert, außer dass die Masse der Schüler mittlerweile, noch zaghaft, begonnen hat sich zu artikulieren. Ein Cellist streicht unendlich langsam über eine Saite, während die Schüler stumm einen Text aufsagen. Immer wenn die Cellosaite ein Stück nachgibt und ein ebenso kurzes wie leises Geräusch von sich gibt, tun die Schüler dasselbe. Zu hören sind eigentlich nur Serien unterdrückter Laute, der Text ist nicht zu verstehen.

Wiewohl Ogiermann dem Museumsdisplay folgt und dieses in Klang umsetzt, erzählt seine Komposition letztlich eine ganz andere Geschichte. Sie beginnt nicht mit der Zelebrierung der Monarchie, sondern mit dem Hinweis auf Gewalt und Ausgrenzung als Bedingungen der Herrschaftsausübung. Und sie begreift Demokratisierung nicht als Folge positiver Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft, sondern als immer unvollendeten Prozess, sich selbst zu erproben. Durchaus konsequent gibt der Komponist dazu den Schülern, aber auch dem Publikum mehr als nur symbolisch Gelegenheit. Gewisse Abweichungen von der Ruhe und Disziplin einer gewöhnlichen Konzertaufführung sind dabei nicht nur unvermeidlich, sondern wohl auch Teil des Programms. Aber die Schülerinnen und Schüler, die einen Teil der Verantwortung selbst tragen, gehen durchaus mit, manche genießen offenbar auch Ogiermanns manchmal hart-rhythmische elektronische Bearbeitungen der Vokalstimmen.

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