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Lyrisch getönte Abgründe, dramatischer Zündstoff: Wilhelm Stenhammars Streichquartette 3–6 neu auf CD

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Wie ist es eigentlich zu erklären, dass es derart lange gedauert hat, bis einige zentrale Meisterwerke der Streichquartettliteratur in kongenialen, mühelos erhältlichen Einspielungen vorlagen? Der Verdacht, der Schwede Wilhelm Stenhammar habe in den Jahren 1894 bis 1916 den bedeutendsten skandinavischen Quartettzyklus der ausgehenden Spätromantik geschaffen, konnte bis vor einigen Jahren nicht durch das klingende Beispiel erhärtet werden.

2011 hatte das Oslo String Quartet die Quartette 3 bis 6 bei cpo eingespielt. Diese liegen nun erneut, allerdings mit interessanten Ergänzungen auf zwei hochauflösenden Tonträgern bei BIS vor: Stenhammars f-Moll-Quartett, das hier erstmals zugänglich gemacht wird, ist eigentlich sein drittes. 1898 uraufgeführt wurde es kurz danach vom Komponisten zurückgezogen, um durch ein neues drittes, nun offiziell gezähltes, ersetzt zu werden, das er aber erst Jahre später beenden konnte. Klingt kompliziert; den 26-Jährigen hatten nämlich spontan Zweifel am Gelingen des Schlusssatzes befallen, den er immer wieder umzuarbeiten sich vornahm, wozu es allerdings nie kam. Gut möglich, dass er nicht ganz auf der Höhe der vorangegangenen Sätze steht, aber seine Funktion als Kehraus erfüllt er dennoch vollauf.

Der Zeit seines Lebens (1871–1927) selbstkritische Stenhammar schien seit dieser Schaffenskrise an einem Komplex zu laborieren, es unbedingt mit dem späten Beethoven aufnehmen zu müssen, was der leichten Fasslichkeit seiner Musik zwar eher nicht, ihren absolut-musikalischen Qualitäten aber unbedingt zugute kam. Stenhammar, der durch unterschiedliche Verpflichtungen bald nur mehr in den Ferien Zeit zum Komponieren hatte, kann jedenfalls niemand vorwerfen, er hätte es sich zu leicht gemacht und nicht immer wieder die Herausforderung der ehrwürdigen, deutsch-österreichischen Streichquartett-Tradition gesucht. (Stenhammars langlebigerer dänischer Kollege und Freund Carl Nielsen etwa brachte es auf nur vier Werke überdies schwankenden Niveaus.)

Den Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bilden die mehr als halbstündigen Quartette 3 und 4, die durchaus auf der Höhe der Zeit stehen, wenn man die hoch spannenden Wiener Entwicklungen jener Jahre einmal außer Acht lässt, die sich erst nach Ende des Weltkriegs international Bann brachen. Bei Stenhammar regiert die Tonalität weiterhin unangefochten und erscheint alles andere als ausgereizt; das a-Moll-Werk aus den Jahren 1904–09 hat er selbstbewusst Sibelius gewidmet, der eine ähnliche Auffassung vertrat. Auch aus heutiger Sicht legte Stenhammar mit dem op. 25 sein stärkstes kammermusikalisches Statement vor, das, so Signe Rotter-Broman im Booklet, durch „harmonische Raffinesse an den äußersten Grenzen funktionaler Tonalität, motivische Verwandlungskunst und werkübergreifende Vernetzung“ besticht und „souverän über eine breite Spanne von Traditionen und Modellen“ gebietet. In der Tat wird man lange suchen müssen, um einem äußerlich zunächst so wenig Aufsehen erregenden Stück zu begegnen, das dafür bei eingehender Betrachtung desto mehr dramatischen Zündstoff und lyrisch getönte Abgründe offenbart.

Die Interpreten sind hier stark in die Pflicht genommen, doch das seit 2002 bestehende Stenhammar Quartet profitiert enorm von der langjährigen Auseinandersetzung mit den Werken seines Namenspatrons; sie gelingen ihm mit einer nahezu selbstverständlich anmutenden Eleganz, jedoch ohne es am nötigen Feuer fehlen zu lassen. An der Exaktheit der Intonation und der bruchlosen Verschmelzung der Einzelstimmen gibt es ohnehin nichts auszusetzen.

Das schon 1910 folgende fünfte, wie alle anderen viersätzige Quartett in C-Dur trägt den Untertitel „Serenade“ und erfüllt diese Vorgabe durch eine übersichtliche, knappere Anlage und gleich zwei Mittelsätze scherzhaften Charakters, wobei sich der erstere, „Ballata“, auf ein traditionelles Lied stützt, das die tragikomische Geschichte vom Schicksal des Ritters Finn Konfusemfej erzählt, während der zweite, ein überdrehter Volkstanz, in weniger als zwei Minuten vorüberhuscht. Seinen in der lakonisch-ironischen Schlusskadenz von Nr. 4 bereits kurz aufscheinenden Sinn für Humor kann Stenhammar nun voll ausspielen und zugleich den Wiener Klassikern seinen Tribut zollen. Das Finale stößt ins gleiche Horn, indem es unpersönliche Versatzstücke, ja leere Floskeln scheinpar planlos miteinander verwirbelt, eine rein musikalische Methode, humoristische Wirkungen zu erzielen, die unmittelbar auf den Quartettmeister Joseph Haydn (z. B. im op. 33) zurückgeht.

Als Stenhammar 1916 sein (offiziell) sechstes Quartett in d-Moll schrieb, hatte er seit einigen Jahren strenge Kontrapunktstudien betrieben, die sich auf die gleichberechtigte Vierstimmigkeit des Quartettsatzes insofern besonders günstig auswirkten, als sein letzter Beitrag zur Gattung zugleich zu seinem modernsten, abstraktesten geriet – analog hatten ja schon Beethovens polyphone Ambitionen dessen Spätwerk geprägt.

Gleichsam als Postskriptum zu dieser Werkgruppe, an der man sich nicht so leicht überhört, hat Stenhammar drei Jahre später eine kammermusikalische Bühnenmusik verfasst, die stilistisch ähnlich gelagert war wie Prokofieffs quasi zeitgleich entstandene „Symphonie classique“. Musikstücke, die bestimmte theatralische Situationen vorbereiten oder untermalen, bildeten vom ausgehenden 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert ein heute weitgehend vergessenes, weil in der Filmmusik aufgegangenes Genre, das Stenhammar (wie sein Freund Sibelius, der zur großen Oper ein gespaltenes Verhältnis hatte), nur zu gerne bediente, vor allem, wenn daraus noch Suiten für rein konzertante Zwecke zu gewinnen waren.

Die raumakustischen Gegebenheiten der Aufnahme ermöglichten ein Klangbild von optimaler Wärme und Durchsichtigkeit. Auch wenn unklar bleibt, ob die zur Komplettierung der Gesamteinspielung noch fehlenden ersten beiden Quartette von BIS nachgeliefert werden, kann der Gewinn fürs Repertoire schon jetzt kaum überschätzt werden.
 

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