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Foto: © Monika Rittershaus
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Mussorgskis „Jahrmarkt von Sorotschinzi“ an der Komischen Oper Berlin

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Bereits im Vorfeld des 70-jährigen Jubiläums der Komischen Oper Berlin, welches in der kommenden Saison begangen wird, schlägt Barrie Kosky mit der jüngsten Produktion den Bogen zu den Anfängen von Walter Felsenstein. Der hatte in seiner ersten Spielzeit Mussorgskis komische Oper „Der Jahrmarkt von Sorotschinzi“ in der Tscherepnin-Bearbeitung interpretiert, die bereits 1927 in der Städtischen Oper Berlin unter Fritz Zweig ihre deutsche Erstaufführung erlebt hatte.

Die dreiaktige Oper nach einer Erzählung Nikolai Gogols, von Mussorgsky unvollendet hinterlassen und erst 1911 in St. Petersburg uraufgeführt, hatte der Komponist als heiteres Gegengewicht zu seinen beiden großen Volksdramen „Boris Godunow“ und „Chowantchina“ konzipiert. Vor der Folie des Teufelsaberglaubens findet beim Dorf-Jahrmarkt ein junges Paar – gegen den Willen der Mutter, aber mit Zustimmung des trunksüchtigen Stiefvaters – zusammen.

In seiner Torso gebliebenen Oper hatte Mussorgski für die Teufelsszene seine Orchesterfantasie „Die Nacht auf dem kahlen Berge“ herangezogen. Ergänzungen in der Kette der Bearbeiter Ljadew, Karatygin, Cui, Rimski-Korsakow, Schebain und Lamm erscheinen legitim. Die Neuinszenierung der Komischen Oper, basierend auf der Fassung von Pawel A. Lamm, ist durch drei Lieder aus Mussorgskis „Lieder und Tänze des Todes“ und durch ein Lied von Nikolai Rimski-Korsakow erweitert worden. Chordirektor David Cavelius hat die eingeschobenen Lieder für eine Solo-Bandura (Olga Caspruk) arrangiert.

Mit Rimski-Korsakows rahmengebendem „Hebräischen Lied“ op. 7, Nr. 2, ausgeführt von Chor und Kinderchor, antizipiert der Hausherr und Regisseur bereits seine für nächste Saison angekündigte Musical-Produktion „Anatevka“, die er auch nicht in einem folkloristisch farbigen Dorf, sondern im „furchtbaren kulturellen Gefängnis“ eines jüdischen Schtetls in Grautönen vorstellen will.

Bereits das dörfliche Leben in Sorotschinzi spielt im leeren Bühnenraum sowie wiederholt vor dem weiß kassetierten eisernen Vorhang. Ausstatterin Katrin Lea Tag verwendet nur eine grünliche Schräge mit rampenparallel verfahrbarer Mauer und legt allen Aufwand in Kostüme und Schweinsmasken, die der Chor teils als komplette Köpfe, teils als Nasen, Ohren und Ringelschwänze trägt.

Der eigentliche Jahrmarkt findet nur in den Köpfen statt: die Händler preisen sich selbst, individuell tanzend, dem Publikum körperlich an, frieren dann aber für die erste Solistenszene ein.

Den Auftritt der Schweine deutet Kosky als „Rache des Teufels. Der Teufel sucht den Juden heim als das, was er nicht essen darf.“ Giftige Farben machen die schweinische Fresstafel zu einem Gefahrenmoment.

Das Spiel der „kollektiven Psychose“ im pausenlos gut zweistündigen Opernabend ist lebendig und belebt gestaltet: der Bauernbursche Grizko (stimmlich etwas flach: Alexander Lewis) rollt die Schräge herab, seine geliebte Parasja (kraftvoll: Mirka Wagner) dreht sich bei ihrer Arie im dritten Akt wie ein tanzender Derwisch und Herren und Damen des Chores gestikulieren mit abwechselnd ausgestreckten Händen und gespreizten Fingern.

Die von ihrem trunksüchtigen Gatten Tscherewik (stimmdominant: Jens Larsen) unbefriedigte Chiwrja (grell überzeichnend: Agnes Zierko) schlägt Hühnereier für die Verführungsspeisen ihres jungen Liebhabers am Kopf des schnarchenden Ehemanns auf und steckt dem Schlafenden, als ihr sein Schnarchen zu viel wird, ein Ei in den Mund. Die Zubereitung ihrer Pfannkuchen ist veritables Geruchstheater.

Ihrem Liebhaber Afanassi Iwanowitsch (Ivan Turšić) zieht Chiwrja mit einer Zange die Brennnesseln aus dem Popo und versteckt anstelle des nicht vorhandenen Hängebetts im Anus eines gerupften Huhns. Als Steigerung des zitierten „Mr. Bean and the Christmas Turkey“ führt Afanassi dann das Huhn auf seinem Kopf gebraten und dampfend spazieren, wobei dieser Überkopf dann an ein Schwein gemahnt.

Die Dämonenszene, in der welcher der Gevatter (Tom Erik Lie) mit schwarzen Kreuz auf der Brust selbst zum Oberteufel wird, garniert der Regisseur mit sieben auf Stelzen laufenden Schweinen, die das Liebespaar umrunden, bevor der Teufel in der von ihm in der Vorgeschichte an den Wirt des Dorfes verpfändeten roten Jacke die junge Parasja vergewaltigt. Alle Choristen tragen komplette Schweinsköpfe oder zumindest Schweinerüssel, -Nasen und Ringelschwänze.

Parasja singt ihr Lied im dritten Akt zunächst traurig und a cappella. Die gegen die Ehe des jungen Paares massiv opponierende Chiwrja wird im Original von Zigeunerburschen weggetragen, hier bleibt ihre Überrumpelung zugunsten des Happy-Ends unmotiviert.

Insgesamt ist ein giftfarbiger, in erster Line vom großartigen Chor und Kinderchor getragener Opernabend entstanden. Doch Felsensteins Frage, „Warum singt der Mensch?“, bleibt bei dieser Produktion einer komischen Oper, deren größte Lacher durch hinzuerfundenes russisches Gebrabbel ausgelöst werden, seltsam in der Schwebe.

Generalmusikdirektor Henrik Nánási gelingt es in seiner letzten Premiere, die Mixtur der Volkston-Collage mit sieben ukrainischen Volksliedern – nebst klerikalen Wendungen als Ausdruck sexueller Begierde – zu einem immer wieder üppig schwelgenden Ganzen zu zwingen. Gleichwohl konnte der Dirigent nicht verhindern, dass das Publikum am Premierenabend bereits am Ende der Mussorgski-Komposition, also vor dem wiederholten jüdischen Lied, mit dem Applaus einsetzte.

Einem einsamen, aber massiven Buhrufer zeigte Barrie Kosky ostentativ seine kalte Schulter.

  • Weitere Aufführungen: 9., 14., 22. April, 23. Mai, 10. Juni und 16. Juli 2017.

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