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Mahlers 9. - Public Domain aus dem Jahr 1912. Verfremdet: MH
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Nuancen, unwahrnehmbar – Currentzis und die 9. Symphonie von Gustav Mahler

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Das SWR Symphonieorchester war aktuell an sieben Orten mit Gustav Mahlers 9. Symphonie zu hören. Dirigent: Teodor Currentzis. Georg Rudiger war in Freiburg dabei, hörte dabei Unerhörtes, aber auch verschwindende Klänge eine Orchesters im Extremzustand.

Mit der dritten Symphonie von Gustav Mahler feierte Teodor Currentzis in der letzten Saison sein vielbejubeltes Antrittskonzert als Chefdirigent des SWR Symphonieorchester. Auch die aktuelle Spielzeit wollte der Grieche mit Gustav Mahler beginnen – mit dem Adagio aus der unvollendeten 10. Symphonie – aber die Konzerte musste er aus gesundheitlichen Gründen absagen. Michael Sanderling sprang ein.

Neben Tschaikowsky, Rachmaninow und Schostakowitsch, deren Symphonien Currentzis in der ersten Saison präsentierte, ist die Musik von Gustav Mahler mit ihrer Gebrochenheit, ihrer Expressivität, ihrem Bekenntnischarakter und ihrer genau kalkulierten Wirkung sehr gut geeignet für den hochemotionalen Zugang des Griechen. Der Komponist wollte in seinen Symphonien mit allen Mitteln der Technik eine Welt aufbauen, wie es seine Bekannte Natalie Bauer-Lechner in ihren Erinnerungen überliefert. Dafür setzte Mahler Instrumente in extremen Lagen und dynamischen Randzonen ein, integrierte Sologesang und Chor, baute Volksmusik mit ein, erweiterte den Klangraum mit Fernorchester und ließ in der Sechsten sogar einen Hammer niederschmettern. Auch Teodor Currentzis möchte in seinen Konzerten musikalische Welten erschaffen. Auch für ihn berührt Musik tief die menschliche Seele. Und auch er überlegt sich genau, wie man die Wirkung von Musik verstärken kann – beim seit Wochen ausverkauften Konzert im Freiburger Konzerthaus mit Mahlers 9. Symphonie lässt er am Ende, wenn die Musik zerfällt, auch das Saallicht herunterdimmen. Das Freiburger Konzert ist das sechste einer Tournee mit insgesamt sieben Konzertabenden, die das SWR Symphonieorchester unter anderem ins Wiener Konzerthaus und die Hamburger Elbphilharmonie führte. Routine ist aber keine zu spüren. Weder bei dem sich verausgabenden Dirigenten, dessen Hemd schon nach dem ersten Satz schweißnass am Rücken klebt, noch beim groß besetzten, grandios aufspielenden Orchester.

Mahlers große Abschiedssymphonie beginnt Currentzis ganz zart, ja zärtlich in den Streichern. Die Seufzer sind noch nicht schwer, sondern wirken fast süßlich – wie sentimentale Erinnerungen. Erst nach und nach, beginnend mit scharfen, gestopften Horntönen nimmt die Expressivität zu. Currentzis liest die Partitur genau und macht auch feinste dynamische Unterschiede, besonders im Pianobereich, hörbar. Die Homogenität der einzelnen Streicherregister ist enorm, die Balance innerhalb der solistischen Bläser genau austariert. Solohornist Joachim Bänsch muss nicht forcieren, um seine wichtige Stimme klar hervortreten zu lassen. Currentzis verliert sich nicht in der Vielstimmigkeit dieses Satzes, sondern lässt einzelnes klar heraustreten. Das Ergebnis: Transparenz und eine ungeheure Plastizität des Orchesterklangs, der am Ende durch das Dolcissimo der Solovioline (Jermolaj Albiker) wieder in die Intimität zurückkehrt.

In den beiden Binnensätzen ist die Charakterisierungskunst von Teodor Currentzis und dem SWR Symphonieorchester noch stärker zu erleben. Die ersten Achtel des „schwerfällig“ zu spielenden Ländlers werden in den zweiten Violinen gestaut, so dass dieser Tanz in Verbindung mit den heftigen Fortissimo-Abstrichen noch derber erscheint. Die plötzlichen Tempowechsel zwischen Gemütlichkeit und Eile, zwischen heimeligem Rückzugsraum und gehetzter Verunsicherung werden wie selbstverständlich musiziert. Die Rondo-Burleske mäandert zwischen irdischem Überlebenskampf und Klängen von überirdischer Schönheit, wenn Jörge Becker, der schon das Posthornsolo von Mahlers Dritter Symphonie der Welt entrückte, mit seinem ganz weichen, innigen Trompetenton berührt.

Das finale Adagio, Mahlers kompositorischer Abschied von der Welt, hinterlässt dann einen zwiespältigen Eindruck – und das nicht, weil die Konzentration des Orchesters ein wenig nachlässt, einige Bläsereinsätze nicht mehr ganz so konturenscharf sind und die letzten Pulte der zweiten Violinen bei einem Einsatz deutlich zu früh starten. Currentzis führt das Orchester hier wirklich in Extreme – so leise hat man ein Symphonieorchester vielleicht noch nie gehört. Das ist lange Zeit beeindruckend, berührend, radikal und unerhört, ehe der Dirigent am Ende dann doch das Maß verliert. Das in den Streichern sich auflösende Molto Adagio lässt er extrem langsam am Rande der Hörbarkeit musizieren. Töne werden zu Material, Klänge zu Geräusch. Keine melodische Linie ist in diesem atomisierten Abschiedsgesang mehr erkennbar. Auch keine Nuancen mehr, weil sie einfach nicht mehr wahrzunehmen sind. Das vorher extrem hochkonzentrierte Publikum wird unruhig. Vielleicht auch nur deshalb, weil Currentzis‘ Interpretation in ihrer Radikalität wirklich herausfordert.

Aber dass der Dirigent nach dem Verklingen des letzten Tones so lange regungslos stehenbleibt, bis dann irgendwann doch ein einzelner Besucher die ohnehin unruhige, von Husten und Räuspern gestörte Stille durchbricht, hat dann doch mehr mit Selbstinszenierung und Manipulation des Publikums zu tun als mit dem Verklingen der musikalischen Spannung. Die hatte sich nämlich schon längst aufgelöst. Am Ende gibt es stehende Ovationen für Mahlers Neunte. Und Vorfreude auf das neue Jahr, wenn sich Teodor Currentzis  und das SWR Symphonieorchester im Februar in Stuttgart, Freiburg und auf einer anschließenden Europatournee Gustav Mahlers erster Symphonie widmen.

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