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Foto: © Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
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„Reiz naiver Geistigkeit und keine Rezepte“ – Zum 100. Geburtstag von Gottfried von Einem

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Wer kennt heute Gottfried von Einem? Ja, der Name ist Kennern geläufig, und erfahrene Musiktheater-Routiniers werden sofort seine zu Lebzeiten sensationell erfolgreichen Opern aufzählen: ‚Dantons Tod‘ nach Büchner, ‚Der Prozess‘ nach Kafka, ‚Der Zerrissene‘ nach Nestroy ‚Der Besuch der alten Dame‘ nach Dürrenmatt, ‚Kabale und Liebe‘ nach Schiller – das ist in der Tat eine in der Nachkriegszeit einmalige, erstaunliche Erfolgsserie höchst gelungener, für den Kenner wie für den Belcanto-Liebhaber ergiebiger Würfe, die von 1947 bis 1976 über drei Jahrzehnte den Namen des Komponisten als stets für Überraschungen guten Erfolgsgaranten auf den großen Bühnen repräsentierten.

1980 gab es dann einen grenzübergreifenden Skandal im deutschsprachigen Raum, der mit der Musik so gar nichts zu tun hatte: Die Oper ‚Jesu Hochzeit‘ auf ein Libretto von Einems zweiter Ehefrau Lotte Ingrisch, und die katholische Kirche mobilisierte demonstrierende Marionetten, die von Gotteslästerung schwadronierten, ohne den zwar esoterischen, jedoch zumindest mit den apokryphen Evangelien übereinstimmenden Inhalt im geringsten zu kennen. Plötzlich war sie wieder da, die Hexenjagd, auch wenn es diesmal nicht um Leben und Tod, sondern nur um den guten Ruf und die sachliche Aufnahme ging. Der Skandal hat der Wahrnehmung seiner Musik nicht gutgetan, denn sie war in ihrer unspektakulären Subtilität und zerbrechlichen Botschaft denkbar ungeeignet für einen aggressiven Diskurs. Danach trat Einem, der zusammen mit seinem Schüler HK Gruber ein Donaukraftwerk besetzte und die Inbetriebnahme verhinderte, 1990 noch mit einer „grünen Oper“ hervor, dem ‚Tulifant‘, den die Kritik überwiegend nicht mehr verstand und eher geneigt war, hinter der Märchenallegorie auf unsere Gesellschaft einen weltfremden Mummenschanz zu vermuten.

Gottfried von Einem, dieser äußerst gewandte musikalische Weltbürger, den es eigentlich nirgendwo lange hielt, zog sich zusehends in die Provinz des Waldviertels und Niederösterreichs zurück, reduzierte seine Tonsprache auf eine kunstvoll verdichtete Einfachheit, die sich ins Aphoristische sehnte, und starb am 12. Juli 1996 im Alter von 78 Jahren in Maissau unweit der tschechischen Grenze. Eines seiner letzten Werke ist eine Slowakische Suite für Streichorchester, ein Werk von einer entzückenden Echtheit und scheinbaren Naivität, frei von jedem Bedürfnis, sich irgendwohin abgrenzen zu müssen, ganz dem Geschehenlassen dessen hingegeben, was sich durch ihn hindurch unwillkürlich und in feinsten Nuancen, die durchaus auch grelle und schroffe Konturen aufweisen, ausdrücken wollte. Die Witwe Lotte Ingrisch, als feine und wie er dem Irrationalen zugewandte Dichterin ungebrochen tätig, lebt in Wien, wo er nach dem dramatischen Abgang aus Salzburg seine zentrale Wirkungsstätte fand und 1963-72 an der Musikhochschule Komposition lehrte – ein Fach, von dem er wie sein großer Lehrer Boris Blacher überzeugt war, dass man die Essenz nicht lehren kann.

Äußerst gewandter musikalischer Weltbürger

Wenn der Krieg stabile Verhältnisse zerstört und Machtgewichte verschiebt, wie dies seine Natur ist, merken es alle, und die Geschichtsschreibung kann mit offenkundigen Tatbeständen operieren. Doch zuerst sind stets die labilen Gleichgewichte, die zerbrechlichen Netzwerke bereits von den Schatten betroffen, die der Krieg vorauswirft. Am 28. September 1938 wurde Gottfried von Einem in Berlin im Hotel beim Frühstück verhaftet. Ein Sturz ins Bodenlose, die völlige Ungewissheit, welche Richtung die Ermittlungen nehmen werden, die Ohnmacht – all das sollte dann Anfang der 1950er Jahre künstlerische Frucht werden in seiner Kafka-Oper ‚Der Prozess’. Wie sich herausstellte, geschah dies im Zuge der Ermittlungen gegen seine Mutter, die dann auch für über ein Jahr im Gefängnis saß. Gerta-Luise von Einem, Geborene von Scheurnschloss, war eine Jongleurin des Lebens, die ihren Adelsstand in virtuoser Weise zu nutzen verstand. Sie bewegte sich mit schwindelerregendem Geschick auf dem Parkett des großen Geldes, der Politik und der Intelligentsia.

Biographisches

Da lief sie, die nach allen Seiten ihre Netze ausgeworfen hatte, im Zuge der Feindseligkeiten gleich in mehrere Fallen. Nicht nur, dass sie im Zuge der Ermittlungen in Nazi-Deutschland die Haftentlassung mit einem gewaltigen finanziellen Aderlass erkaufte. Sie wurde parallel in Frankreich in Abwesenheit wegen Spionage zum Tode verurteilt und in den Gazetten als „Mata Hari II“, als Doppelagentin vorgeführt. Nach dem Krieg wurde sie von der Besatzungsmacht verhaftet und nach zweijähriger Gefangenschaft freigesprochen. In besagtem Gestapo-Verhör jedenfalls erfuhr der 20jährige Gottfried von Einem, dass sein Vater nicht der war, den er dafür hielt. Seinen leiblichen Vater hatte er als Kind zweimal gesehen. Er war der Sohn des ungarischen Grafen László Hunyady, der 1927 während einer gemeinsamen Ägyptenreise zusammen mit Gerta-Luise bei einer Großwildjagd von einem Löwen zerrissen wurde. Die Mutter leugnete die außereheliche Zeugung bis zu ihrem Tode.

Gottfried von Einem wuchs in ländlicher Idylle unweit von Plön in Schleswig-Holstein auf: Mit Hauslehrern und Bediensteten, aber weitestgehend ohne die Mutter und fast ganz ohne den anscheinenden Vater, der ihm fremd geblieben war. Er lernte auch Klavier spielen und komponierte autodidaktisch. 1938 wurde er durch Protektion seiner Mutter ohne jede einschlägige Erfahrung Korrepetitor am Preußischen Staatstheater in Berlin, und Heinz Tietjen, der fast schon allmächtige Intendant der Preußischen Theater, nahm sich seiner als Mentor an. An der Berliner Musikhochschule wurde er als Kompositionsstudent von Heinz Tiessen abgelehnt, der sich zwar nicht sicher war, ob er unbegabt sei, jedoch kein satztechnisches Können feststellen konnte. Da kam das Unerwartete. Auf Empfehlung des Dirigenten Johannes Schüler stellte er sich 1941 Boris Blacher vor, der als ‚Vierteljude’ mittlerweile nur noch gelegentlich aufgeführt wurde und nicht mehr offiziell unterrichten durfte. Blacher hatte 1937 mit der Uraufführung seiner ‚Concertanten Musik’ seinen sensationellen Durchbruch als Komponist erlebt und war aufgrund seiner durch nichts zu unterdrückenden Vorlieben für Jazz, Elemente der Unterhaltungsmusik und eine Strawinsky vergleichbare Freude an dissonanter Schärfe, entfetteter Orchestration, unsentimentaler ‚L’art pour l’art‘ und vertrackt groovenden Rhythmen – vielleicht ein wenig vergleichbar der widerwilligen Duldung des im Kriege gefallenen Edmund von Borck – das offensichtliche Gegenteil eines NS-Konjunktur-Komponisten. Und nun war es dieser Mann, der Gottfried von Einem zum Komponisten ausbildete, und nicht nur das: zum Ritual gehörte es, dass sie sich vor Beginn jeder Unterrichtseinheit die verbotenen Auslandsnachrichten anhörten. Auch entdeckte Einem hier die ihnen gemeinsame Leidenschaft für den Alkohol, die ihn weiter begleiten sollte.

Blacher erzählte später, Einem sei als „völliger Anfänger“ zu ihm gekommen, doch zugleich gewissermaßen als bereits Fertiger, Unverwechselbarer. Der Unterricht ging bis 1943, die daraus resultierende Freundschaft dauerte ein Leben an und brachte zugleich eine singuläre künstlerische Kollaboration mit sich, die man vielleicht mit dem Gespann Claudel-Milhaud vergleichen kann: Blacher als kongenialer Librettist seines Schülers, der zum erfolgreichsten Opernkomponisten des deutschen Sprachraums aufstieg!

Einem hat sich an Blacher nicht nur ästhetisch-handwerklich als Komponist, sondern auch ethisch als Mensch orientiert, ihn wie einen Vater verehrt –nach der unfreiwilligen Aufdeckung seiner Abstammung war dies der zweite und entscheidende Schritt zu wirklicher Mündigkeit. Bei Blacher lernte er auch noch im selben Jahr seine künftige Ehefrau Lianne von Bismarck kennen. So kam er mit Widerstandskreisen in Kontakt, in denen unter anderen der Dirigent Leo Borchard (nach dem Krieg aufgrund der Sperre für Furtwängler kurz Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, wurde dieser unbeugsame Nazi-Gegner nach überstandener Schreckenszeit von einem amerikanischen Kontrollposten ermordet) verkehrte. Von Einems Mutter wird gesagt, sie habe unzähligen Menschen durch Intervention an hoher Stelle ebenso wie durch Fluchthilfe das Leben gerettet. Im Falle von Gottfried von Einem gab es ein konkretes Zeugnis des jüdischen Musikers Konrad Latte, aufgrund dessen Einem posthum als ‚Gerechter unter den Völkern‘ in Yad Vashem gelistet wurde: dank seiner charmant couragierten Dreistigkeit und glaubwürdigen Persönlichkeit erreichte er, dass Latte, dem er zunächst unter hohem persönlichen Risiko seine eigenen Papiere lieh, unter anderem Namen als vorgeblich ‚Ausgebombter‘ offiziell neue Dokumente erhielt und unbehelligt im Dritten Reich weiterarbeiten konnte.

Unverhoffter Durchbruch als Komponist

Dann kam Einems unverhoffter Durchbruch als Komponist, das fulminante Ergebnis seines Studiums bei Blacher: Leo Borchard dirigierte am 11. März 1943 die Berliner Philharmoniker in der Uraufführung seines ‚Capriccio‘ op. 2, Elmendorff folgte in Dresden mit der Première des Balletts ‚Turandot‘ op. 1, und im Jahr darauf hob Karajan in Berlin sein ‚Concerto für Orchester‘ aus der Taufe. Die Kritiken waren zwiespältig, der Blacher’sche Einfluss ist hier bei aller Eigenart noch zu spüren, man empfand Frivolität…

Einem stand nicht auf der Führer-Liste der ‚Gottbegnadeten’, doch mit der Hilfe von Freunden wie dem unverbesserlichen Zyniker Werner Egk und dem Dresdner GMD Karl Elmendorff gelang es, eine Freistellung von der Reichsmusikkammer zu erreichen. Einem, mittlerweile am Dresdner Theater engagiert, zog sich auf den Familienlandsitz im steirischen Ramsau zurück und komponierte seine Büchner-Oper ‚Dantons Tod‘, mit der 1947 Geschichte schreiben sollte. Ein Leben wie die Vorlage für einen Spielfilm, und so ging es auch weiter.

Nach dem Kriege wirkte er als offizieller Berater des Direktoriums der Salzburger Festspiele und geriet mit Herbert von Karajan aneinander. Im Kern ging es um die Frage, ob das Werk (Einem!) oder der Interpret (Karajan!) im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen solle, und damit verbunden um die generelle Neuausrichtung der Festspiele. Keine Frage, wer hier letztlich den Kürzeren zog. Wie das Wirtschaftswunder über die Besinnung siegte, so auch der durch Personenkult übertünchte Kommerzialismus über die künstlerische Substanz. Einem war musikalisch immer der Mann auf der Seite Furtwänglers. Er hatte große Pläne für Salzburg, und so ist ihm nicht nur zu verdanken, dass Furtwängler dort noch spät diesen großartigen ‚Othello‘ gemacht hat, sondern er setzte nun alles daran, Bertolt Brecht als Hausdichter an die Stadt zu binden – Brecht, der als Kommunist von den McCarthy-Schergen vertrieben wurde und nun ohne Pass in der Schweiz saß. Einem schaffte es mit durch nichts zu unterbindender Beharrlichkeit tatsächlich, Brecht einen österreichischen Pass zu verschaffen, und die beiden waren schon im Austausch über Pläne, den Sakrilegbruch schlechthin zu vollbringen: Hofmannsthals ‚Jedermann‘ sollte durch einen ‚Salzburger Totentanz‘ aus der Feder des bekennenden Kommunisten ersetzt werden.

Da entwickelte sich die Sache zum Skandal, Einem wurde in der Presse als ‚Kommunistenfreund‘ beschimpft und vom Landeshauptmann schmählich aus dem Direktorium geworfen. Statt in Salzburg fand er schließlich in Wien seine Hauptwirkungsstätte und wurde in späten Jahren behandelt wie ein Staatskomponist, was ihn zwar nicht korrumpierte, ihm jedoch viele Feinde eintrug. Einem hat viel dafür getan, dass seine Musik aufgeführt und in Auftrag gegeben wurde, doch stets führte er seine geschätzten Kollegen mit im Akquisegepäck: Boris Blacher, Rudolf Wagner-Régény, Heimo Erbse, Werner Egk, Carl Orff usw., und er war es nicht zufrieden, bis er nicht wenigstens auch eines ihrer Werke untergebracht hatte. Er war kein egozentrisch zurückgezogener Künstlertypus, sondern ein Mann der Gesellschaft, der – politisch eher links verortet, doch mit Freunden auf allen Seiten des Spektrums – im Leben stets etwas bewirken wollte. Er pflegte seine Freundschaften intensiv bis zum Ende, mit Blacher, Wagner-Régeny, Dürrenmatt und vielen anderen, er saß am Sterbebett seines geliebten Bühnenbildners Caspar Neher. Seine Frau Lianne starb 1962 an einer Herzerkrankung, 1966 heiratete er die Dichterin Lotte Ingrisch, mit der er die Liebe zu so vielem teilte, was der Materialismus nicht erklären kann.

Gegensatz zur dogmatischen Avantgarde

Als Komponist brachte sich Einem nach und nach in scharfen Gegensatz zur dogmatischen Avantgarde, die den völligen Bruch mit der Vergangenheit herbeiführen wollte. Natürlich brauchte es gelegentlich eine Revolution, um das Ganze neu aufzumischen, doch insgesamt handelt es sich um eine Evolution. Er sah sich als Fortführer eines geschichtlichen Prozesses, der nicht willentlich gesteuert werden kann, sondern von den schöpferischen Potentialen der wirkenden Individuen abhängt. Da die Oper das spektakulärste Genre ist und auch das finanziell attraktivste, war sein anhaltender Erfolg auf diesem Gebiet dazu angetan, allmählich seine Leistungen auf anderen Gebieten zu überschatten. Doch um den Komponisten Gottfried von Einem kennenzulernen, muss man seine Orchesterwerke, Streichquartette und Lieder anhören. Da ist es zunächst die unerschöpfliche Vielgestaltigkeit, die es unmöglich macht, ihn zu kategorisieren. Wenn man mehr von dieser Musik kennenlernt, kann man unmöglich behaupten, er sei ein Traditionalist gewesen. Überall lauert hier das Neue, Überraschende, Unerwartete, eben auf eine Weise, die man nicht erwartet. Wer freilich eine Ideologie mitführt, was signifikant für neue Musik sei, steht seinem Schaffen ratlos gegenüber. Und irgendwie ist auch die ganze Musikgeschichte potentiell anwesend in seinem Werk: seine Lieblinge Mozart und Schubert, Beethoven, Bruckner, Mahler, Strawinsky, auch Alban Berg  und viele andere – der Spurensuche sind hier keine Grenzen gesetzt, der subtilen wie auch offenkundigen Verbindungen ebenso wenig. Ob es die Permutationen Mozart’scher Anklänge in den ‚Wandlungen’ sind oder das Gespräch (und eben keine Collage!) mit dem St. Florianer Meister im ‚Bruckner-Dialog’, das eine so organisch sich entfaltende wie niemals vorherbestimmt erscheinende Entwicklung nimmt, ob es das herrlich vorbereitete, plötzlich hervortretende Schubert-Lied im 5. Streichquartett ist oder die gebrochene Mahler’sche Pracht im sehnenden Finale seines Violinkonzerts (das die Geige im Nachschlag zum Tutti-Akkord allein beendet!) – alles schillert in unendlicher Gestaltenbildung, Verwandlung, und all die plötzlichen Umbrüche sind doch auf wundersame Weise untergründig verbunden.

Gegenwärtigkeit dieser Musik

In der kompakt lichten ‚Philadelphia Symphony’ haben wir so etwas wie eine Wiedergeburt des unbefangenen Geistes von Prokofieffs ‚Symphonie classique’, und in den drei folgenden Symphonien so gehaltvolle wie von keinem Trend kommandierte Fortführungen einer Tradition, die schon immer mehr wert auf die Substanz als auf den Effekt (an welchem, ist das Gehör geschult und verfeinert, freilich auch kein Mangel ist) legte. Der hellwache Geist, die Brillanz, in einem Wort: die Gegenwärtigkeit dieser Musik hat etwas Mozartisches; die wienerische Innigkeit mit ihrem Schmerz auch im Glück etwas Schubertisches. Einem war bei aller Kultivierung, bei aller vollendeten Beherrschung des Handwerks und der niemals akademisch gebauten Formen immer ein Musikant, kein Akademiker wie Pepping, kein Theorienmanifestierer wie Hindemith oder Messiaen, und auch kein Selbstvergötterer wie Schönberg, Boulez oder Stockhausen. Er befand sich fortwährend im Wandel, in Wechselbeziehung mit der Welt, doch nicht angetrieben von dem Willen, sich eine Gefolgschaft auszubilden und der Geschichte seinen Stempel aufzudrücken. Dies schenkte uns einen bis heute in der Fülle nicht erfassten Reichtum unterschiedlichster Werke, die vor allem eines sind, wenn wir uns ihrer erst einmal annehmen: lebendig.

Was für ein Mensch Gottfried von Einem war, dies hat – alleine aufgrund der Handschrift – die Münchner Graphologin Auguste Oesterreicher 1948 in einer Weise beschrieben, die jene, die ihn kannten, als authentisch empfanden. Da heißt es u. a.: „Ein nicht allzu häufiger Ausdruck von hohen Verstandesanlagen und intuitiver Begabung. Das starke Temperament, die Erregbarkeit desselben, drängt gelegentlich zu Reizbarkeiten, Schärfe, auch in spontane Angriffe – aber die Kritik des Schreibers umschließt auch Selbstkritik und duldet ungern ein längeres Sich-gehen-lassen; die Korrektur erfolgt bald nach der Entgleisung. Dieser höchst persönliche Charakter braucht Weite, Selbständigkeit, Raum für seine Eigenart und Ziele. Im engen Wirkungskreis würde diese menschliche und künstlerische Potenz sich aufreiben, zermürben. Er muss selbst Maß und Richtung sein. Die Stimmungen unterliegen einem starken Wechsel und können von gesteigerten, euphorischen Phasen leicht abgleiten ins Depressive. Das Selbstgefühl ist nicht ausgeglichen, und Verletzungen desselben können mit Empfindlichkeit und Schroffheit beantwortet werden. […] Nichts Kleinliches spricht aus dieser Schrift. Ein großer Ernst und hohes Verantwortungsgefühl dem Werk und den Menschen gegenüber paaren sich einem religiösen Gefühl und tiefer menschlicher Wärme.“

Vielleicht beschreibt dies auch Gottfried von Einems Musik besser als jede noch so treffsichere Analyse. 1952 schrieb Einem einen Aufsatz über Strawinsky. Der Titel: ‚Reiz naiver Geistigkeit und keine Rezepte‘ – trifft wohl am besten auf seine eigene Musik zu.

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