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Lena Belkina (Johanna), Kristján Jóhannesson (Lionel), Helena Sturm (Double Johanna). Foto: © Werner Kmetitsch
Lena Belkina (Johanna), Kristján Jóhannesson (Lionel), Helena Sturm (Double Johanna). Foto: © Werner Kmetitsch
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Russisch timbrierte Grand Opéra: Tschaikowskys „Johanna von Orleans“ im Theater an der Wien

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Regisseurin Lotte de Beer interpretiert Tschaikowskys „Johanna von Orleans“ vor dem Hintergrund eines Vater-Tochter-Konflikts. Unsere Autorin, Regine Müller, sieht darin einige Schwierigkeiten. „Das mitreißende und durchdachte Spiel aller Akteure und die an historischen Vorbildern orientierten üppigen Chortableaus mit rauschenden Kostümen versöhne allerdings dann auch jene, denen de Beers Erzählung wohl abstrus erscheint.“

Tschaikowskys Schiller-Adaption ist ein Stiefkind des Repertoires. Dabei war die Vertonung von Schillers Drama nach dem historischen Fall, zu der er selbst das Libretto schrieb, eine Herzensangelegenheit für den Komponisten. Die rätselhafte Titelfigur faszinierte ihn seit frühester Jugend und nach den „lyrischen Szenen“ des „Eugen Onegin“, in dem es ihm zuvor gelungen war, psychologische Intimität mit einem tiefenscharfen Gesellschaftspanorama zu verbinden, wollte er mit „Johanna von Orleans“ ein monumentales Werk nach dem Vorbild der französischen Grand Opéra schaffen, mit in jeder Hinsicht großem Aufgebot vor historischem Panorama. Mit diesem übergroßen Ehrgeiz stand Tschaikowsky sich dann selbst im Weg: Die Überambition bleibt spürbar, das Werk hat Längen, birgt dramaturgische Durststrecken und Ungereimtheiten.

Regisseurin Lotte de Beer und Oksana Lyniv im Graben setzen im Theater an der Wien nun dem Monumentalismus des Werks eine psychoanalytisch motivierte Ursachen-Suche entgegen. Ohne die Massenszenen zu verkleinern oder höfischen Pomp und militärisches Hurra-Geschrei herauszukürzen, ziehen sie der Geschichte der religiös fanatischen Titelfigur eine zweite, familiär motivierte Ebene ein, die sich im Laufe des Abends immer mehr in eine Traum-Logik entfesselt und am Ende eine gescheiterte – oder doch geglückte? – Suche nach Identität sein könnte.

de Beer auf Ursachen-Suche

Schon in der Ouvertüre wird die fatale Konstellation umrissen: In der Bühnenmitte steht eine funktionale Wohnküche des 21. Jahrhunderts, darin hantiert eine leicht bekleidete junge Frau, der Hausherr kommt hinzu, geht rasch zum erotischen Angriff über, der auf der Arbeitsplatte fast zum Vollzug kommt, doch dann stört eine weitere junge Dame das amouröse Handgemenge und ist sichtlich verstört. Johanna, im langen, grauen Kapuzenpulli empört sich stumm, die Leichtbekleidete verschwindet, Johanna füllt ihre Müsli-Schale, während Daddy im Ohrensessel resigniert „Le Monde“ liest.

Damit ist das Spannungsverhältnis zwischen Vater und Tochter schon benannt. In der folgenden ersten Szene des ersten Aktes, in der laut Libretto Dorfmädchen unter einer Eiche tanzen, lässt de Beer eine seltsame Ballgesellschaft aufmarschieren: Mädchen in rosa Tüllröcken tanzen mit ausgewachsenen, schwarz gewandeten Herren mit Schwertern klassische Formationen zwischen Keuschheit und kaum unterdrückter Gewalttätigkeit. Das Setting entspricht dem der sogenannten „Purity-Balls“, wie sie in konservativ christlichen Kreisen in den USA veranstaltet werden, wo sehr junge Mädchen unter der strengen Anleitung ihrer Väter den Schwur leisten, jungfräulich in die Ehe zu gehen.

Danach verlangt Johannas Vater angesichts der unsicheren Zeiten von ihr, sich möglichst bald zu verheiraten und präsentiert ihr seinen Wunsch-Schwiegersohn Raimond. Doch Johanna ist angewidert und zieht sich in ihr Mädchenzimmer zurück, dessen über eine Holztreppe zu erreichendes Bett im Laufe des Abends noch zahlreiche Funktionen übernehmen wird, vom immer wieder aufgesuchten Zufluchtsort hin bis zum Podest, auf dem sie zuletzt als Hexe begafft wird.

Diese ersten Szenen sind in der Gegenwart angesiedelt und immer wieder springt die Ausstattung zurück ins Hier und Jetzt, während zwischendurch das Designerduo Clement & Sanôu lustvoll historische Kostüme auffährt, aber auch hier munter zwischen den Epochen springt. Die Chöre sind teils in der Zeit der historischen Johanna angesiedelt, ebenso der Hochadel und Klerus von Reims, wenn aber der Chor Johanna als siegreiche Erlöserin feiert, paradieren Suffragetten und Ikonen emanzipierter Weiblichkeit wie Frida Kahlo, Marlene Dietrich und Madonna im legendären Jean-Paul Gaultier-Bustier.

Lotte de Beer erzählt die abstruse Geschichte ansonsten schnörkellos, abgesehen davon, dass die Ebenen ständig wechseln und sich mehr und mehr überlagern und parallel laufen. Der eigentliche Plot wird immer deutlicher als hitzige Fantasie Johannes gekennzeichnet, überall dort, wo historische Kostüme zu sehen sind, sind nach de Beer Johannas Projektionen am Werk. Der Kern der inneren Handlung dreht sich laut de Beer um Johannas durch Traumatisierung ausgelöste Angst vor Sexualität und ihre Flucht in eine fantasierte Mission, die mit tödlicher Konsequenz an Keuschheit gebunden ist. Als Johanna sich schließlich dann doch in ihren Gegner Lionel verliebt, sich dagegen wehrt, vom Vater verraten wird und nach dem ersten sexuellen Vollzug die von der Entjungferung gezeichneten Bettlaken in die Wäschetonne ihres Mädchenzimmers stopft, wird klar, dass sie dieses Zimmer im Grunde nie verlassen hat. Bei Schiller stirbt Johanna auf dem Schlachtfeld, bei Tschaikowsky wird sie wie die historische Johanna auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In Wien hat Johanna sich zuletzt aufgespalten in zwei Akteurinnen, die miteinander ringen und sich gegenseitig dann doch offenbar befreien, der Scheiterhaufen bleibt rot glühend leer.

Extrem verfremdende Lesart

Eine solch extrem verfremdende Lesart hat natürlich ihre Holperstellen und mancher Volte kann man nicht so recht folgen, insgesamt aber sorgt de Beers Konzept für eine glaubwürdige Binnenspannung und der religiöse Fanatismus der Hauptfigur wird als Ausweg nachvollziehbar. Das mitreißende und durchdachte Spiel aller Akteure und die an historischen Vorbildern orientierten üppigen Chortableaus mit rauschenden Kostümen versöhnten dann auch jene, denen de Beers Erzählung wohl abstrus erscheint. Zumal Oksana Lyniv mit den Wiener Symphonikern im Graben eine glasklare, zügig strömende und scharf akzentuierte Tschaikowsky-Lesart vorlegt, die zwar hoch emotional, aber niemals gefühlig, geschweige denn sentimental klingt. Lena Belkina beglaubigt die Titelfigur mit intensiv glühendem Spiel und vollem Einsatz ihres hell timbrierten Mezzos, dem es noch etwas an Kern fehlt. Willard White gibt der undurchsichtigen Vater-Figur markante Schwärze, Dmitry Golovnin ist ein rollendeckend tenoral krähender, überzeugend notgeiler König Karl II, Simona Mihai seine in Rot bezirzende, etwas klirrend klingende Gattin, imponierend Daniel Schmutzhard als Dunois und Kristjan Johannesson gibt einen virilen, baritonal kernigen Liebhaber Lionel. Famos wie immer der extrem geforderte Arnold Schönberg Chor, auf dessen Konto in nicht unerheblichem Maße der dann doch einhellige Schluss-Jubel geht.

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