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Die Deutsche Kammerakademie Neuss. Foto: http://www.deutsche-kammerakademie.de
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Seine Zeit kommt jetzt: Hervorragende Ersteinspielung von Heinrich Kaminskis „Werk für Streichorchester“

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Im Jahr 2004 ging das Orchestre des Régions Européennes unter der Leitung von Konrad von Abel nach einer intensiven Einstudierungsphase auf eine Tournee unter dem Titel ‚Vom Unendlichen’, die Werke von Heinrich Kaminski und seinen Schülern Heinz Schubert und Reinhard Schwarz-Schilling umfasste. Damals wurde als Hauptwerk Kaminskis ‚Werk für Streichorchester’ gegeben, und in der ‚Welt’ erschien ein Artikel von Volker Tarnow, der die Genialität des vergessenen Großmeisters pries und auf seinen späten Durchbruch hoffte.

Doch danach ist es abermals still um Kaminski geworden, bis jetzt dieses so großartige wie großformatige Werk von der Deutschen Kammerakademie Neuss unter ihrem Chefdirigenten Lavard Skou Larsen in Ersteinspielung vorgelegt wurde.
In der ursprünglichen Fassung als Streichquintett war das ‚Werk’ lange schon erhältlich, allerdings in einer Aufnahme, die kaum in der Lage war, die gigantischen Spannungsbögen auch nur einigermaßen erahnen zu lassen.

Heinrich Kaminski (1886-1946) komponierte sein monumentales Streichquintett 1916, und bei der Uraufführung am 12. März 1917 in München feierte man ihn als Genie – er wurde als einer substanziellsten Komponisten seiner Generation erkannt, und in der Weimarer Republik stieg sein Stern mit Werken wie dem hochkomplexen Concerto grosso für Doppelorchester, dem Magnificat oder dem Quintett für Klarinette, Horn und Streichtrio immer weiter empor, die großen Maestri der Zeit setzten sich für sein Schaffen ein, die angemessene Einstudierung seines Concerto grosso wurde im Fachmagazin ‚Pult und Taktstock’ diskutiert.

Kaminski galt als einer der interessantesten, eigentümlichsten und handwerklich vollendetsten Tonsetzer, als Musterbild zeitloser Modernität. Er selbst wollte die polyphone deutsche Tradition von Bach über späten Beethoven und Bruckner weiterentwickeln, eine Musik schaffen, die ein kontinuierliches Strömen vermittelte, in der die Taktgrenzen überwunden wurden, eine Musik, die in kontrapunktischer und rhythmischer Hinsicht höchst elaboriert und neuartig war und sich bezüglich der Harmonik innerhalb der Tradition bewegte. Da aber das Hauptmaß des Fortschritts eine dissonante Harmonik war, blieb sein Neuerertum ab den fünfziger Jahren den meisten Beobachtern verborgen, und die Fachwelt sah in ihm vor allem einen exotischen Mystiker pan-religiöser Vergeistigung. Im Dritten Reich zählte Kaminski zu den Geächteten, und ein Jahr nach Kriegsende starb er. Also kann seine Zeit nur jetzt kommen.

1927 ließ Kaminski auf Anregung seines Verlegers durch seinen Schüler Reinhard Schwarz (später Schwarz-Schilling) ein Arrangement des Streichquintetts für Streichorchester anfertigen, dem er nunmehr den Titel ‚Werk’ gab. Zur Uraufführung gelangte das ‚Werk’ am 22. Februar 1929 in Wuppertal unter Franz von Hoesslin. Es gibt unter den Vorläufern nur wenige Werke von vergleichbar komplexer Faktur und weitdimensionierter Architektur – genannt seien Beethovens späte Quartette (ohne das Vorbild der ‚Großen Fuge’ ist auch das Finale Kaminskis nicht vorstellbar) und Anton Bruckners F-Dur-Quintett.

Kaminskis Opus stellt allerdings noch höhere Anforderungen an die Ausführenden, und wir dürfen staunen, wie klar und treffsicher Lavard Skou Larsen seine Streicher durch die Partitur mit ihren vielen Tempo- und Charakterwechseln navigiert. Die Deutsche Kammerakademie Neuss ist heute, nach jahrelanger Arbeit unter dem einstigen Végh-Schüler und bekennenden Celibidache-Bewunderer, zu einem ausdrucksmäßig geschlossenen, kammermusikalisch bewussten, hochkultivierten Klangkörper herangereift, und wer Kaminskis Kunst kennenlernen will, die tatsächlich einen der essentiellsten Beiträge zur deutschen Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildet, wird hier in fast schon idealtypischer Manier an seinen allem modischen Treiben abgewandten, immerzu idealistisch das Höchste, Nobelste, den umfassenden Zusammenhang anstrebenden Stil herangeführt. Diese Musik muss kennen, wer wirklich wissen will, was die Epoche der sogenannten klassischen Moderne sowohl an Bedeutendem als auch an schierer Vielfalt zutage gebracht hat.

Auch die Aufnahmetechnik ist ausgezeichnet, und Lavard Skou Larsen und die Deutsche Kammerakademie haben gleich darauf noch nachgelegt mit einer fesselnden, schwungvollen und hochpräzisen Einspielung der beiden Klavierkonzerte und der Hamlet-Musik von Dmitrij Schostakowitsch. Wir dürfen gespannt sein, was da noch alles kommt.

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