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Foto: Montpellier Danse/Charles Erickson
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Unkaputtbare Avantgarde? „Einstein on the beach“ von Philip Glass, Robert Wilson und Lucinda Child, reanimiert in Montpellier

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Le monde ist sich sicher: mit dieser Aufführung wird Geschichte geschrieben, Montpellier darf sich als kulturelle Hauptstadt fühlen. Also alles wunderbar? Nicht ganz, denn die drei Vorstellungen von „Einstein on the beach“ schlagen mit einer Dreiviertelmillion Euro zu Buche und da man an der Opéra de Montpellier traditionell sehr geringe Eintrittspreise verlangt, war die Angelegenheit zunächst heikel. Doch eine Großspende und gleich sieben Kooperationspartner zwischen Italien, den Niederlanden, Großbritannien, den USA und sogar Mexiko sorgen für die Aufteilung der Kosten.

Teuer ist die Sache wohl vor allem wegen Robert Wilsons aufwändiger Bühnenmaschinerie, die anfangs wenig mehr denn Licht und Schatten bietet, gegen Ende aber mit durch die Luft fliegenden Menschen vor einem riesigen, komplex beleuchteten Stahlgerüst aufwartet. Dazwischen folgt jede Menge weiterer Bilderzauber und Bühnentobak. Zuweilen fühlt man sich ästhetisch in einer René Magritte-Welt, so heterogen werden die Szenerien miteinander verschaltet.

1976 kam „Einstein on the beach“ in Avignon heraus, es galt und gilt als epochaler Beitrag im Bereich avantgardistischen Musiktheaters. Statt einer Handlung gibt es lediglich einzelne Situationen, Zustände, Phasen. In einem kafkaesken Gerichtsverfahren verhandelt man Frauenrechte (und gerät dabei vokal ins Falsett), im Niemandsland tanzen weiß gekleidete Menschen (Choreographie: Lucinda Childs), eine Lokomotive fährt zeitlupenhaft vorbei, ein Busfahrer erzählt eine Liebesgeschichte. Einstein taucht als stummer Geiger auf, einmal erscheint die Projektion einer Atombombenexplosion, dann sieht man eine wirre Formel, während sich Choristen stilvoll-stilisiert die Zähne putzen. Uhren gehen rückwärts, ein Junge lässt Papierflieger steigen. Obwohl sich hier sämtliche narrative Strukturen verflüchtigen, ergibt sich dennoch ein Bogen. Diesen generiert und garantiert die kleinteilige, zugleich ins Großflächige treibende Musik von Philip Glass. Zwischen den wenigen, sehr ausgedehnten ‚Szenen’ sorgen so genannte knee plays für einen Kontrapunkt: es sind zum Teil elektronisch aufgerüstete Synkopenfeuerwerke, zu denen meist getanzt wird (und das wirklich virtuos).

In den ersten eineinhalb Stunden des über vierstündigen, pausenlosen Abends wirkt das Ganze indes etwas altbacken und beim Publikum setzen erhebliche Fluchtbewegungen ein. Mehr und mehr gerät man aber in einen Sog und das letzte Drittel ist sowohl szenisch wie musikalisch fulminant. Das von Michael Riesman geleitete, siebenköpfige Philip Glass Ensemble widmet sich hier einerseits dem Jazz und stimmt andererseits Kirchentöne an. Brillant, was sich da auf der E-Orgel alles tut, es zeigt sich, dass Glass sehr wohl aus seiner Pattern-Dramaturgie aussteigen kann.

Trotz der ausnehmend präzisen und intensiven Umsetzung in Montpellier bleiben letztlich aber doch ein paar Zweifel an der Fruchtbarkeit fürs Hier und Heute. Und es ist eine arge Belastungsprobe fürs Publikum. Glass’ Musik nimmt einen quasi in den Schwitzkasten, während Wilson zu Eis erstarrte Figuren zeigt, die sich aus seinem einschlägigen Gestenfundus bedienen – ist das wirklich noch Musiktheater für unsere Zeit?


 

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