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Charles Munch – The Complete RCA Album Collection (86 CDs). RCA Red Seal (Sony Classical)
Charles Munch – The Complete RCA Album Collection (86 CDs). RCA Red Seal (Sony Classical)
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Verve, Glanz und Leidenschaft: Die Charles Munch Edition bei Sony Classical

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Nicht alles, was die verbliebenen Major Companies der klassischen Plattenindustrie (Sony, Universal und Warner) veröffentlichen, folgt strikt kommerziellen Erwägungen, und der Backkatalog ist ja zweifelsohne das Beste und Reichste, was sie haben. Seit vielen Jahren ist es nunmehr Usus, diesen nach und nach in Kompletteditionen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, was bei Sony zweifellos in der qualitativ hochwertigsten Weise geschieht.

Das ist nichts anderes als die Wiederaufbereitung von wertvollem Kulturgut. Man hat es sich bei Sony zur Regel gemacht, die potentielle CD-Länge nicht auszunutzen und jedes Album in originaler Form in einer Mini-Reproduktion des originalen LP-Covers zu integrieren, was zudem die Einhaltung der chronologischen Folge der Veröffentlichungen ermöglicht. Nach so großartigen Anthologien wie den gesamten Aufnahmen Murray Perahias, den kompletten Einspielungen des Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner bzw. unter Jean Martinon, aber auch den schmaleren Columbia-Vermächtnissen von Klaviertitanen wie Leon Fleisher oder – jüngst – Alexis Weissenberg ist nun die Gesamtausgabe der Aufnahmen Charles Munchs für RCA erschienen, bis auf die allerersten und die letzte mit dem Boston Symphony Orchestra, das Munch von 1949 bis 1962 leitete. Die Edition umfasst 86 CDs und ist mit einem schönen Bookletbuch mit kenntnisreicher Einführung des Munch-Biographen D. Kern Holoman versehen (Holomans 2012 bei Oxford University Press erschienene, umfassend informierende Munch-Biographie ist als weiterführende Lektüre sehr zu empfehlen).

Arthur Honegger bezeichnete Charles Munch als den „besten Dirigenten unserer Zeit“, und die wenigsten wissen, dass Munch auch heute noch im Konzertleben jedes Mal präsent ist, wenn eine der Suiten aus Albert Roussels ‚Bacchus et Ariane’ gespielt wird, die er – ungenannt – unter den Augen des Komponisten für Durand für den Konzertsaal eingerichtet hat. Eigentlich hieß er Charles Münch und wurde am 26. September 1891 im damals zum deutschen Kaiserreich gehörenden Straßburg in eine elsässische Musikerfamilie hineingeboren. Sein Vater Ernst war Organist und Chordirigent und in freundschaftlichem Kontakt mit Karl Straube und Albert Schweitzer ein Hauptprotagonist der romantischen Bach-Pflege. Auch Charles’ Bruder Fritz wurde ein angesehener Dirigent, wie auch sein Vetter Hans.

Charles studierte Violine am Straßburger Konservatorium, dann in Paris bei Lucien Capet und in Berlin bei Carl Flesch, der ihn maßgeblich förderte. Zu seinen frühen Haupteinflüssen zählen vor dem Ersten Weltkrieg Hans Pfitzner und nach dem Krieg Guy Ropartz als Kapellmeister des Straßburger Philharmonischen Orchesters. Im Kriege musste Charles auf deutscher Seite kämpfen, erlitt eine Gasvergiftung und wurde verwundet. Ab 1920 war er stellvertretender Konzertmeister der Straßburger Philharmoniker, 1926-33 dann Konzertmeister des Leipziger Gewandhaus-Orchesters unter Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter. Er wurde von diesen Legenden entscheidend geprägt und genoss auch als Violinsolist einen ausgezeichneten Ruf.

Dass er sich dann sehr schnell als Dirigent etablieren konnte, sollte er wie sein Vorgänger in Boston, Serge Koussevitzky, einer reichen Heirat verdanken: seine Frau Geneviève war Enkelin der Gründer der Nestlé-Dynastie, mietete das Straram-Orchester für sein Dirigierdebüt in Paris am 1. November 1932 und bezahlte so lange für seine Auftritte, bis er ein gefragter Mann war – was nicht allzu lange dauerte. Binnen weniger Jahre gehörte er zur Spitze der französischen Dirigenten. Im Zweiten Weltkrieg unterstützte Munch die Resistance, danach begann seine internationale Karriere. In Boston war man sehr skeptisch, ob er dem Druck, Nachfolger des berühmten und strengen Koussevitzky zu sein, standhalten würde, doch schon im ersten Jahr hatte er die Herzen und den Respekt des Orchesters und des Publikums gewonnen.

In den dreizehn Jahren, die er das Boston Symphony Orchestra leitete, dirigierte er in 721 Konzerten 39 Uraufführungen, 58 amerikanische Erstaufführungen und 97 Bostoner Premièren. Er brachte den Amerikanern die französische Musik in allen Facetten nahe wie kein anderer und setzte sich ganz besonders für die zeitgenössische amerikanische Musik ein. 1962 übergab er zur großen Enttäuschung der Bostoner auf der Höhe des Erfolgs die Leitung an Erich Leinsdorf und ging zurück nach Frankreich, wo er mit der Gründung des Orchestre de Paris beauftragt wurde. Am 6. November 1968 starb Charles Munch auf einer Tournee seines Orchestre de Paris in Richmond, Virginia.

Was zeichnet Munchs Bostoner diskographisches Vermächtnis aus? Vor allen Dingen eine überbordende Leidenschaftlichkeit, immense Freude am Virtuosen und am runden, vollen, edlen Klang, und eine improvisatorische Spontaneität. Die gemeißelte Perfektion, wie sie so bezeichnend für George Szell in Cleveland oder Fritz Reiner in Chicago war, war nicht so seine Sache, auch wenn durchgehend ein exzellentes technisches Niveau herrscht. Und gerade bei Debussy oder Ravel wird, bei allem natürlichen und inwendigen Zugang, offenkundig, dass auch die Verfeinerung der Klangalchimie und das Bewusstsein über den organischen harmonischen Zusammenhang ihre Grenzen hatten. Die Klassiker ließ er mit Verve und Spritzigkeit musizieren, die großen Symphonien von Brahms und Tschaikowsky mit Wärme und beseeltem Drama.

Für viele zählen seine Mendelssohn-Aufnahmen (Schottische, Italienische und Reformations-Symphonie) zu den Gipfelleistungen der Plattengeschichte. Doch wirklich interessant wird es bei Berlioz: die schneidende Schärfe und brachiale Wucht, das Bizarre und Abrupte, das kontrolliert Rührselige, Sentimentale, die irrationale Komponente, all das brachte er hier zu überwältigendem Ausdruck, und die Kenner haben sich natürlich längst mit seinem klassischen Berlioz-Zyklus ausgerüstet und gelernt, die Repertoirelücken darin unablässig zu bedauern. All das ist in der vorliegenden Box enthalten, wie auch beispielweise die Brandenburgischen Konzerte, die erstaunlich Aufschluss geben über die romantische Bach-Pflege um Albert Schweitzer, die seine musikalische Wiege bildete. Mozart ist kaum vertreten (das Klarinettenkonzert mit Benny Goodman und das Klavierkonzert KV 467 mit dem wunderbaren Robert Casadesus, dafür Haydn mit den Symphonien Nr. 103 und 104, und das weniger zackig als unter Szell, aber auch nicht sentimental. Die Beethoven-Symphonien liegen nicht komplett vor und sind kraftvoll und vorwärtsdrängend vorgetragen, was auch für Schubert, Mendelssohn und Schumann gilt.

Natürlich sind berühmte Solisten dabei: Casadesus außerdem mit d’Indy und Franck, Menuhin mit Bruch, Rubinstein mit dem 2. Brahms-Konzert, Piatigorsky mit Strauss’ Don Quixote, Dvorák, Walton und Bloch, Milstein bzw. Szeryng mit Tschaikowsky, Brailowsky mit Chopin (Nr. 2) und Saint-Saëns (Nr. 4), Victoria de los Angeles in Debussys ‚La damoiselle élue’ und Berlioz’ ‚Nuits d’été’, Oistrach mit Chausson und Saint-Saëns, Heifetz mit Beethoven, Mendelssohn und Prokofieff (Nr. 2), Byron Janis mit Rachmaninoffs 3. Konzert, Gary Graffman mit Brahms (Nr. 1), Chopin (Nr. 1) und Mendelssohns Capriccio brillant, Maureen Forrester mit Mahler, Svjatoslav Richter mit dem 1. Beethoven-Konzert, Jaime Laredo mit Mendelssohn und Bach (a-moll), und ganz besonders die französische Pianistin Nicole Henriot-Schweitzer, mit der Munch ein besonderes Verhältnis verband und mit der mit Abstand am häufigsten auftrat. Das Zusammenwirken mit ihr in Prokofieffs 2. Konzert, dem G-Dur-Konzert von Ravel und der heute doch als Komposition sehr konventionell wirkenden ‚Symphonie sur un chant montagnard français’ von Vincent d’Indy zeugt von einer kammermusikalisch intimen Vertrautheit und flexiblen Synchronizität, wie sie nur ganz selten zu beobachten ist.

Besonderes Augenmerk gilt dem seltenen Repertoire, das stets mit außergewöhnlicher Sorgfalt und Präzision aufgeführt wurde: das hochvirtuose und kantable Violinkonzert von Gian Carlo Menotti, exzellent gespielt von Tossy Spivakovsky; die Symphonien Nr. 2 und 5 von Arthur Honegger; Walter Pistons ausgezeichnete, lebensvolle 6. Symphonie und die so hochexpressive wie technisch herausfordernde 6. Symphonie von Bohuslav Martinu, die Munch in Auftrag gegeben hatte; Jacques Iberts charmant mediterrane Suite ‚Escales’ und Samuel Barbers in höchster dramatischer Wucht sich zuspitzender ‚Medea’s Dance of Vengeance’; die 1. Symphonie des 21-jährigen Easley Blackwood, nach deren meisterlich verdichteter und balancierter Faktur dem Komponisten der Weg nach ganz oben offen zu stehen schien, und Alexei Haieffs effektvolle 2. Symphonie. Echte Highlights der damaligen neuen Musik sind auch Francis Poulencs Konzert für Orgel, Streicher und Pauken, Strawinskys genial anarchistisches Lego-Ballett ‚Jeu de Cartes, die Suite provençale und die jazzige ‚La création du monde’ von Darius Milhaud oder eine umfangreiche Zusammenstellung aus Prokofieffs drei ‚Romeo und Julia’-Suiten – einiges davon hat man nie besser gehört.

Zu den weniger populären Lieblingen Munchs zählen außerdem Schumanns Genoveva-Ouvertüre, Saint-Saëns ‚La princesse jaune’-Ouvertüre, Edouard Lalos große Ouvertüre zu ‚Le roi d’Ys’ und die zeittypisch pompös von Hamilton Harty eingerichtete Händel’sche ‚Wassermusik’-Suite. Vielleicht die bemerkenswerteste Besonderheit dieser Anthologie ist die Aufnahme von Claude Debussys später d’Annunzio-Vertonung ‚Le martyre de St. Sébastien’, jenes überwältigende Werk, das von seinem schwülstigen Text wie von einem Fluch verfolgt wird: Hier übernahm Munch 1956 selbst die Rolle des Sprechers, und er tat dies mit meisterhafter Nuancierung, man könnte ihm wohl stundenlang zuhören – und muss zugleich auch feststellen, dass er einige teils recht rabiate Kürzungen in dem umstrittenen Meisterwerk vorgenommen hat…

Ganz in seinem Element war Charles Munch hier nicht nur bei Berlioz, sondern auch in der Symphonie und dem einst so beliebten ‚Chasseur maudit’ von César Franck, der mit magischer Hand ausgeloteten ‚Orgelsymphonie von Saint-Saëns, und ganz besonders in einem Werk, das mit hier zum ersten Mal wirklich einleuchtend in seiner glühenden Emphase erschienen und für mich vielleicht der Höhepunkt der Charles Munch Edition ist: in der einzigen Symphonie von Ernest Chausson. Das letzte Album übernahm nahm Munch nicht mit dem Boston Symphony Orchestra für RCA, sondern nach seiner Demission mit dem Philadelphia Orchestra für Columbia auf, und in Ravels ‚Valses nobles et sentimentales’ und Faurés ‚Pelléas et Mélisande’-Suite bewegte er sich hier noch einmal auf seinem angestammten Terrain, mit Verve, Sinnlichkeit, Glanz und musikantischer Freude, wie ihn die Bostoner geliebt haben. Für seine Anhänger ist die ein Jahr zuvor in Boston eingespielte Tschaikowsky’sche ‚Pathétique’ zum eigentlichen Vermächtnis der legendären Bostoner Zeit geworden.

Charles Munch – The Complete RCA Album Collection (86 CDs). RCA Red Seal (Sony Classical)

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