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Das beschädigte Leben

Untertitel
Über die Komposition „In doppelter Tiefe“ von Wolfgang Rihm
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Angenommen, es gäbe hierzulande eine musikalische Öffentlichkeit. Und angenommen, dort ginge es ebenso medial und munter zu wie im Literaturgeschäft oder seit neuem sogar im philosophischen Betrieb. Dann, so ließ sich spekulieren, gäbe es dort hin und wieder auch einmal Debatten. Etwa über die Frage, wie affirmativ moderne Musik sein kann. Oder darf. Zum Beispiel Wolfgang Rihm. Der sollte, im Auftrag der Berliner Philharmoniker, eine Musik für „50 Jahre Demokratie in Deutschland“ schreiben. Für den Festakt zur deutschen Einheit gleich dazu. Eine doppelt heikle Mission – vor allem, da Rihm die „Staats-Aktion“ vermeiden möchte. Doch die Komposition für zwei Frauenstimmen und Orchester, die von Claudio Abbado am 30. September in Berlin uraufgeführt und wohlwollend beklatscht wurde, bezeugt ein Scheitern. Eine museale Aufarbeitung verklärter Geschichte. Die Ambivalenzen deutscher Demokratie hörbar versöhnt. Programmatisch war gerade das nicht intendiert. Daher sollte ein zersplitterter Text, ein Gedicht von Marinus van der Lubbe, als Grundstein dienen: „Schönheit, Schönheit, was jemals war/Größer/Dichten einmal./Ich glaube ein Gedicht. Ich glaube/Über, Schönheit was jemals war.“ Beschädigte Sprache als Chiffre für beschädigtes Leben. Anlass zum Erinnern: der Holländer van der Lubbe war 1934 als Sündenbock für den Reichstagsbrand vom Reichsgericht zum Tode verurteilt worden. Das Gedicht schrieb er in der Todeszelle; es wurde vom Gerichtsschreiber überliefert, vielleicht erst von diesem zu solcher Rätselhaftigkeit entstellt. Van der Lubbe wurde in doppelter Tiefe begraben. „In doppelter Tiefe“ nennt Rihm sein Werk. Die Musik indessen spricht eine andere Sprache. Der sinfonische Apparat aus dem 19. Jahrhundert. Celesta und Harfen. Geklotzte Blöcke, dazwischen Referenzen an Strauß, an Mahler. Glatt, leer, pompös. Der rudimentäre Charme des Textes, das beschädigte Leben verschwindet in der Fülle des Apparats. Zweimal bricht das musikalische Korsett, gähnen Tiefen auf. Dort, wo die Klangfront des Orchesters weicht, um einen experimentellen Gesangsstil auszustellen. Und dort, wo am Schluss das Orchester ausdünnt, der Schlag der Trommel mit solistischen Streichern die letzten Worte beisetzt. Doch das hilft nichts. War der Rückzug ins Nichts bei Haydn ein politischer Akt, so wird das Mittel hier zum Trick. Experiment und Stille verstören nicht. „Schönheit, Schönheit“ singen die Frauen in langen Melismen und im Duett. Später dann „Einheit“. Und unwillkürlich drängt sich Heinrich Böll in den Sinn. Der Weihnachtsbaum, an dem die gläsernen Zwerge klöppeln und ein silbrig gekleideter Engel – nicht nur zur Weihnachtszeit – „Frieden“ flüstert, „Frieden“. Doch Rihm ist es ernst. Warum aber komponierte er diese Musik, die nach Feierstunde, nach verordneter Besinnung riecht? Was kann, was muss eine Musik heute leisten, die nicht affirmativ geraten will? Vielleicht, so ließe sich die fiktive Debatte entschärfen, ist es ja nur die Wahrnehmung, die das Disparate zum unwahren Ganzen zusammenfügt. Der Rezeptionshorizont des Publikums, der in traditionellen Gesten gleich das Erhabende wittert. Reibendes einreiht. Das aber wäre beim Komponieren doch mitzubedenken. Immerhin sitzen im Publikum Diepgen, Rau, Thierse und Co. Im Berliner Tagesspiegel schrieb Helmut Karasek anlässlich der Verleihung des Nobelpreises an Günter Grass, Deutschland habe eine literarische Apo (gemeint war natürlich Böll) gottlob heute nicht mehr nötig. Angesichts einer solchen nationalen Selbstzufriedenheit, wie sie en vogue zu werden scheint, müsste eine musikalische Moderne noch skrupulöser werden. Weil sie dort, wo sie nicht verstört, in Schönheit und Einheit zum Staatsakt gerät.

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