Dreißig Minuten intelligenter Feinarbeit sind bei Harrell das Mindeste, was eine Stolperstelle verlangt, damit sie am Ende so klingt, wie sie soll: „quite natural“. Harrell demonstriert, korrigiert, philosophiert. „I want a pure, clean sound – you make too much noise“, wendet er gegen eine Passage im Dvorák-Konzert ein. „Louder in sound, softer in texture.“ Das verstehe, erfülle gar, wer kann. Doch im Zweifel hilft sein beständiger Rat: „Stay in the strings“ (bleib eng an den Saiten). Und das erste Gebot: Erst denken, dann üben. „Once you have decided, you must make it work“ (hast du dich einmal für eine Lösung entschieden, dann musst du zusehen, dass sie auch funktioniert).
Ein verwaister Schüler des kürzlich verstorbenen Boris Pergamenschikow hat Schuberts Arpeggione-Sonate perfekt studiert. Nur eine Stelle behagt dem Maestro nicht ganz. „It’s not according to the style of Schubert’s writing.“ Leicht geänderte Phrasierung, Bogenwechsel – und schon ist das „Mysterium der Passage“ gerettet.
Unterrichten sei keine „one way road“, sondern ein Geben und Nehmen, sagt Lynn Harrell hinterher. Er liebt die Arbeit mit Studenten, obwohl die Pädagogik den kleineren Teil seines Künstlerlebens ausmacht. „Alle zwanzig Jahre wächst eine neue Generation mit neuem Zeitempfinden heran. Die Sinne bleiben dieselben, doch die Wahrnehmung ändert sich. Das Rascheste, was Mozart kannte, war die Postkutsche, das Lauteste der Gewittersturm.“ Konsequenz für den Interpreten von heute: das Allegro schneller, das Forte lauter zu spielen.
Lehre für den Lehrer: Er sollte sich hüten, seinen Schülern Vorstellungen seiner Generation aufzuzwingen. „Junge Leute haben eine andere Chemie. Vor vierzig Jahren war auch ich ein Terrorist – ästhetisch und künstlerisch. Entscheidend ist, ob eins zum anderen passt. Auf den Geschmack kommt es an.“
Was wäre – demnach – der „wahre Endzweck“ des Cellounterrichts? „Dass das Cellospiel in Tonfall, Farbe, Charakter und Gestus der menschlichen Sprache so nahe kommt wie möglich.“ Der Hörer habe einen Anspruch zu erfahren, welche Affekte der Komponist schildern wollte (Barock), wie ihm in der Welt zumute war (Romantik) oder welche Erfahrungen er mit und an seinem Material machte (Moderne) – vermittelt, „gebrochen“ durch die Persönlichkeit des Interpreten.
Und welche Eigenschaften müsste ein junger Musiker besitzen, um auf den Parnass zu gelangen? „Demut, Disziplin, Ehrlichkeit, Integrität.“ Demut empfinden vor dem Werk und seinem Schöpfer. Disziplin üben gegen sich, ehrlich sein mit sich selbst. Nicht mogeln! „Und andere nicht ausstechen wollen. Friedlicher Wettstreit, ja. Den ‚Gegner’ besiegen wollen wie im Sport, nein. Die Verwundbarkeit des anderen auszunutzen – das wäre der Ruin des Künstlertums.“
Das alles klingt eher europäisch-kultiviert als wildwestlich. Tatsächlich preist Lynn Harrell, 1944 „outside of New York“ geboren, immer wieder seine Verbindungsfäden zur Alten Welt. Sein Vater Mack Harrell, anfangs Geiger, später Bariton an der Met, hatte mit Bruno Walter und Toscanini musiziert, Bergs Wozzeck und Strawinskys Nick Shadow gesungen und Schönbergs Ode an Napoleon deklamiert, bevor die Familie in die Geburtsstadt des Vaters heimkehrte: Dallas in Texas. Dort fand Sohn Lynn seinen ersten großen Cellolehrer: Leo Aronson, ein Emigrant aus Lettland, der im Berlin der zwanziger Jahre – „the Central Park of European culture at that time“ – bei Gregor Piatigorsky studiert hatte, bevor er fünf KZ-Jahre knapp überlebte.
Als Lynns Vater 1960 an Krebs starb und seine Mutter, eine Geigerin, ein Jahr später durch einen Autounfall ums Leben kam, wurden ihm die New Yorker Juillard School (Leonard Rose) und das Curtis Institute in Philadelphia, Meisterkurse mit Piatigorsky und Pablo Casals, vor allem dann aber das Cleveland Orchestra unter George Szell zum Lebensquell und zur künstlerischen Heimat. Harrell wird nicht müde hervorzuheben, wie wichtig ihm diese acht Orchesterjahre waren und heute noch sind: Ihnen verdanke er seine „wahre musikalische Ausbildung“: Kenntnis aller bedeutenden Orchesterpartituren und Orchesterlieder, der Cellostimme im sinfonischen Gewebe, Stilgefühl, Atmen mit dem Dirigenten und vieles mehr. Alle großen Cellisten „bis zu Jacqueline du Pré“ hätten im Orchester gesessen, bevor sie ihre Solokarriere schmiedeten. „Der Senkrechtstart vieler Wettbewerbsgewinner von heute verengt die Künstlerpersönlichkeit.“