Am 17. Oktober 2002 wurde der Komponist Mauricio Kagel im Isabellen-Saal des Kölner Gürzenich mit dem Großen Kulturpreis Rheinland der Kulturstiftung Rheinischer Sparkassen ausgezeichnet. Wir geben hier Kagels Dankesrede (leicht gekürzt) wieder.
Am 17. Oktober 2002 wurde der Komponist Mauricio Kagel im Isabellen-Saal des Kölner Gürzenich mit dem Großen Kulturpreis Rheinland der Kulturstiftung Rheinischer Sparkassen ausgezeichnet. Wir geben hier Kagels Dankesrede (leicht gekürzt) wieder. Ein alter Freund, der sich über meine Arbeit vielleicht noch mehr Gedanken gemacht hat als ich selbst, meinte, als er von der heutigen Ehrung erfuhr: „Es ist fast selbstverständlich, wenn die Stiftung der Rheinischen Sparkassen Sie auszeichnet, da der Komponist Kagel so sparsam mit Noten umzugehen pflegt.“ Ja, das ist wahr. Ich bin in einem Milieu aufgewachsen, das Wohlstand schätzte, jedoch Überfluss verabscheute. Auf meine Kunst übertragen bedeutet dies, dass man das, was man zu sagen hat, oder jenes, was man glaubt, sagen zu müssen, auf das Notwendigste reduziert. Wenn man so will, eine Art programmatische Lakonik, wodurch die Musik weder ausdrucksarm noch mitteilungsschwach werden darf. Es liegt mir fern, in Zeiten eines fast zwanghaften Sparens in allen Domänen der Kulturförderung für die Grundsätze unbarmherziger Sparsamkeit zu werben. Das wäre fehl am Platze, vergleichbar mit einem absichtlich falsch verstandenen Lob der Torheit. Man darf – auch wenn man es mit der Entwicklungshilfe gut meint – keine Rasenmäher in die Sahara exportieren. Aber die öffentlichen und die privaten Ressourcen sind kommunizierende Gefäße, die sich gegenseitig ernähren und genauso gemeinsam am Hungertuch nagen. Mir kommt das Bild von zwei ungleich großen Kraken in beharrlicher Umarmung in den Sinn, deren Tentakel den Inhalt der gegenseitigen Taschen ständig prüfen. Heute wohl eine einführende Parabel über die Lehre der blanken Leere. Es scheint so, dass eine ideale Balance zwischen dem Appetit der einen und den Nöten der anderen Seite kaum erreichbar ist. Die Vorstellung jedoch, dass die öffentliche Hand nur aus langen, bohrenden Fingern besteht, ist bestimmt abwegig. Wie viele andere europäische Länder auch erleben wir seit mehr als einer Dekade früher undenkbare Überraschungen, die schnel-ler aufeinander folgten, als wir sie verarbeiten konnten. Ich würde sogar von einem Stau im Aufnahmevermögen sprechen. Freilich sind die erwähnten Überraschungen zweifelhafter Natur, sie betreffen fast immer die Ökonomie und die Finanzierung des Kulturlebens.Ich erinnere mich noch genau an die gerümpften Nasen und die erhitzten Stellungnahmen zu Beginn der Subventions-Neuzeit bei der bloßen Erwähnung des Themas „Private Sponsoring“. Geber und Nehmer entwickelten seitdem flexible Strategien. Die damals wohl begründete Befürchtung, dass Vorhaben, Orte, Mitwirkende und Programme vom Sponsor offen oder subkutan mitentschieden werden könnten, hat sich nur dort bewahrheitet, wo bereits im Vorfeld der Projekte ein beidseitiger Konsens die Grundlage bildete. Es gibt sehr viele und wichtige Beispiele, dass andere Modelle der Zusammenarbeit möglich sind, ohne dass die Empfänger der Unterstützung sich gegen Druck und negative Einflüsse wehren müssen. Aber: Wie viel außerordentliche Musik und Architektur, wie viele exorbitante Bilder und Skulpturen sind im 17. und 18. Jahrhundert entstanden, als die Abhängigkeit von Komponisten, Architekten und Künstlern vom Auftraggeber total, wenn nicht sogar unterwürfig, lakaienhaft war? Keine Regel kann im Voraus die Qualität eines neuen Werkes oder den Erfolg eines neuen Projektes sichern, weder wenn der Täter abhängig noch wenn er unabhängig ist.
Wahrscheinlich gibt es seit dem Augenblick, als Investoren in schöngeistigen Produkten auf die Idee kamen, nicht vorher gehörte Musikstücke in Auftrag zu geben, ein Vabanquespiel der Zuversicht: Hoffentlich wird das noch unbekannte Opus beachtlich sein! Die Bezeichnung „Kulturindustrie“, die zuerst Adorno geprägt und erläutert hat, trifft genau den Kern unserer Tätigkeit. Wie in jeder Sparte handwerklicher Herstellung befinden sich Künstler und Schriftsteller, Komponisten und Theatermacher in einem Zustand fortdauernder Abhängigkeit. Ihre Selbstständigkeit ist reine Theorie, genehm und dienlich jedoch der Praxis der Steuererfassung. Wir befinden uns in einer Phase des Umdenkens auf vielen Gebieten und sind bereits Zeugen mehrfacher Umbrüche. Ein einziges Heilmittel wird die Gesundung des Systems kaum bewirken, weil in der Kulturlandschaft ähnliches geschieht wie bei der Reibung tektonischer Plattformen; plötzliche Erdbebenstöße lassen neue Risse und längst verschüttete Gräben wiederentstehen. Die Rangfolge der Werte in den uns vertrauten Skalen gerät dauernd durcheinander, und so sind Symptome, Diagnosen, Heilung und Nachwehen oft schwer voneinander zu unterscheiden. Sobald man wichtige Bestandteile des gesellschaftlichen Konsenses in Frage stellt, insbesondere jene, die das Selbstverständliche betreffen, kommen viele, in Jahrzehnten mühsam konsolidierte Strukturen ins Wanken. Autonomie oder Abhängigkeit sind vielleicht gar nicht antinomisch, sondern als merkwürdig durchdringende Kategorien zu verstehen. Jedenfalls scheint hier eine vollkommene Trennung der Rollenverteilung kaum möglich. Ich sprach eingangs von einer Reduktion auf das Notwendigste. Das schließt jedoch extreme Armut aus. Notwendigkeiten sind eine Frage der Definition und in Sachen der Kultur ist bemessene Großzügigkeit von elementarer Bedeutung. Das Sparen darf nicht blindwütig verschärft werden, eher sollten die Gründe und Voraussetzungen für die Notwendigkeiten immer neu durchdacht werden. Daraus ergeben sich notgedrungen wechselnde Prioritäten. Man kann Unsicherheit als besondere Variante einer instabilen Sicherheit definieren. Diese Letzte ist für die langfristige Planung jeglicher Kulturarbeit aber bitteres Gift. Wer will dieses wohl freiwillig schlucken?