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Vieles im Musikleben erscheint uns selbstverständlich. Beispielsweise, daß es für jede Komposition einen Notentext gibt. Daran haben wir uns so sehr gewöhnt, daß uns Ausnahmen wie die Elektroakustik überraschen. Partituren im Sinne von reproduzierbaren Aufführungsanweisungen sind in der elektroakustischen Musik, die für Lautsprecher komponiert ist, aber unbekannt. Abgespielt, abgetastet werden Tonspuren, Schallplatten und Tonbänder. Alle diese Trägermedien aber, an die ein bedeutendes Kapitel der Musik des 20. Jahrhunderts im Wortsinne gebunden ist, unterliegen Verfallsprozessen. Daran kann auch eine noch so sachgemäße Verwahrung nichts ändern.
Seit 1990 gibt es deshalb ein Projekt zur Rettung der elektro-akustischen Musik, das „Internationale digitale elektroakustische Musikarchiv, kurz IDEAMA. Gegründet wurde es vom Karlsruher „Zentrum für Kunst- und Medientechnologie“ gemeinsam mit der Stanfort Universität/USA. Auf dem IDEAMA-Symposion 1992 hat dazu ein zwölfköpfiges Auswahlgremium – Francois Bayle, Gottfried Michael Koenig, Josef Anton Riedl, Jürg Stenzel unter anderen – die verbindliche Aufstellung des europäischen Beitrages zur Basissammlung beschlossen. Welche Schätze werden in Karlsruhe gehütet?
Wer einmal hineinhört und vielleicht aus Neugier die Inventarnummer 001 anwählt, kann Entdeckungen machen. In diesem Fall eine Geräuschcollage: ein Motor, der nicht anspringt, eine kratzende Geige, ein Klavier, ein Telefon, die Klingel-Kasse eines Warenhauses, wieder der Motor mit den Anlasserproblemen, eine Stimme, die zum Diktat bittet, eine Säge, ein Sänger, der mit seinen Übungen brillieren will und so weiter. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Inbegriff der Moderne – verkörpert in Walter Ruttmanns „Weekend“, der berühmten experimentellen Tonmontage aus dem Jahr 1929. Elf Minuten und 30 Sekunden Alltagsgeräusche, fragmentierte Lieder, Wortfetzen, Klänge. Lautsprecherkunst ohne Bilder. Die entstehen ohne weiteres im Kopf – begleitet von der allerschönsten Knister-Atmo, die die Karlsruher bei der Digitalisierung sinnvollerweise nicht weggeklickt haben. Darüber gab es im Vorfeld allerdings so manche Auseinandersetzung mit den Kollegen der Stanfort Universität wie Thomas Gerwin, selbst Komponist und Leiter des Karlsruher Archivierungsprojektes, zu erzählen weiß:
„Die Amerikaner sind ziemlich pragmatisch, manchmal erschreckend pragmatisch. Da geht’s zum Beispiel drum: Soll man jetzt entklicken oder nicht entklicken? Dann sagt er: Ist ein Klick drauf – schneid’s raus! Das ist ein Fehler! Sag ich: Ja, Moment, vielleicht hat Pierre Schaeffer dieses Klicken oder dieses Geräusch in seiner geschlossenen Rille auf der Schallplatte eben als Rhythmus genommen! Ach, so: Wenn’s ein Rhythmus ist, dann laß’ drin! Da muß man sagen: Ja, Moment – wir müssen es untersuchen! Wir haben uns – die Amerikaner aus pragmatischen und wir aus Überzeugungs-Gründen – darauf geeinigt, es im Prinzip so zu belassen wie es im Moment erscheint.“ Was natürlich eine absolut richtige Entscheidung ist. Es gilt die Regel: Das individuelle Erscheinungsbild einer jeden Komposition wahren und so authentisch wie möglich aufs digitale Trägermedium übersetzen. Im Resultat ist somit auch eine in ästhetisches Neuland weisende Komposition wie Ruttmanns „Weekend“, abgelegt in Bit und Bytes, bis auf weiteres vor dem Abtauchen ins elektronische Nirwana gerettet. Das Verfallsdatum des ursprünglichen, schallspeichernden Trägermediums – in diesem Fall die vom Filmemacher Ruttmann verwendete Tonspur – entscheidet nicht mehr über Sein und Nichtsein eines Meilensteins der elektroakustischen Musikproduktion. Doch Handlungsbedarf ist grundsätzlich gegeben. Bemerkbar macht er sich für den IDEAMA-Leiter in diversen Schadensverläufen: „Ein Tonband kann zum Beispiel eine Acetat-Beschichtung haben. In den späten 60ern gab’s das relativ oft. Die kann brüchig und spröde werden. Vielleicht ist die Trägerschicht sogar aus Viskose. Die kann zersplittern. Ein solches Band mit einer Viskose-Trägerschicht und einer Acetat-Magnetschicht müßte man sehr langsam erwärmen, damit es überhaupt über den Tonkopf flüssig drübergeht und durch die Spulen läuft. Und Acetat kann sich abreiben am Tonkopf. Das müßte man ganz kurz vorher noch mal befestigen – vielleicht durch eine kurze Abkühlung. Das ist also sehr heikel.“
Der digitale Rettungsring für die Elektroakustik ist also im Einzelfall schwer zu fassen. Doch ausgeworfen ist er immerhin. In einer mit dem Pathos des Neuanfangs erfüllten Eröffnungsansprache, brachte es ZKM-Leiter Heinrich Klotz auf das schöne Paradoxon: „Datenträger sind nicht für die Ewigkeit geschaffen, aber wir müssen versuchen, sie zu verewigen.“ Diese Vorgabe möglichst produktiv umzusetzen, organisiert Thomas Gerwin seit 1990 den Aufbau der IDEAMA-Sammlung. Von insgesamt 10.000 Titeln Neuer Musik rechnet er 6.000 zur Elektroakustik, exakt 740 zur sogenannten „Basissammlung“ – „creme de la creme“ von 50 Jahren elektroakustischer Musikproduktion.
Um allen Quellen auf die Spur zu kommen, kooperiert das Karlsruher Archiv weltweit mit den Komponisten beziehungsweise mit deren Erben und Nachlaßverwaltern. Darüber hinaus existieren Absprachen mit allen bedeutenden Studios und Institutionen. Ein weltweites Netz ist aufgespannt: IRCAM Paris, Stadtbibliothek New York, Institut für Psychoakustik und elektronische Musik in Gent bis hin zum Zentrum für wissenschaftliche Informationssysteme in Tokio, um nur einige zu nennen. Für Institutionen besteht die Möglichkeit, die komplette Sammlung zu subskribieren. Private Nutzer können vor Ort hören.
Darüber hinaus können „für Zwecke der Lehre und Forschung und unter strenger Beachtung des Copyrights“ – wie es in einer Mitteilung heißt – „Kopien auf DAT-Kassetten erstellt und verfügbar gemacht werden.“ Sofern die „Partnerinstitutionen“ des ZKM selbst als Produzenten oder Sammler elektroakustischer Musik tätig sind, werden ihre Bestände in das Karlsruher Archiv integriert. Solche ‚Lieferanten‘ sind unter anderem Radio France, das Siemens Studio München, die Stiftung Elektroakustische Musik Stockholm und der WDR.
Der WDR etwa hat seinen gesamten elektroakustischen Bestand bis einschließlich 1970 zur Verfügung gestellt. Darunter natürlich auch die Arbeiten eines Herbert Eimert. „Klang im unbegrenzten Raum“ – so hat Eimert etwa eine Tonbandproduktion aus dem Jahr 1952 überschrieben. Klänge, die faßlich sind und doch entrückt erscheinen – was für bestimmte Fälle der elektroakustischen Musikproduktion zwischen 1929 und 1970 durchaus wörtlich verstanden werden darf. Denn von den 740 Titeln der „Basissammlung“ sind 90 Titel im Karlsruher Archiv nicht greifbar oder noch nicht greifbar. Sei es, daß die Komponisten diese Stücke selbst zurückgezogen haben, sei es, daß die Produktionen dem Zahn der Zeit erlegen sind oder als verschollen gelten müssen. Was letztere betrifft, bleibt zu hoffen, daß im Nachhall des öffentlichen Interesses der eine oder andere dieser im „unbegrenzten Raum“ sich verbergenden Klänge wieder auftaucht – und dann ebenso verfügbar ist und für produktive Irritation sorgt wie Ruttmanns Pioniertat „Weekend“ von 1929.
Georg Beck