„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!“ – diese böse Formulierung Helmut Schmidts wird immer dann ins Spiel gebracht, wenn Realpolitik sich gegenüber Forderungen nach visionären Entwürfen verteidigt. Aktuell, d.h. vor den Bundestagswahlen, laufen die sich visionär gebenden Versprechungen der Parteien zwar unter Hochdruck. Doch gleichzeitig weiß der Wähler, Schmidts Dictum folgend, dass diese heute entwickelten weit ausholenden „Visionen“ in den Parteiprogrammen als Wahlversprechen eher dem frommen Wunschdenken entsprechen.
Denn die Politik wird sogleich nach den Wahlen zur Alltagsnotwendigkeit übergehen und ihre Versprechungen vergessen – und das heißt als erstes jenseits aller Visionen: die ganz offensichtlichen Staatsfinanzen erst einmal in den Griff zu bekommen.
Was lehrt das Beispiel aus der Politik? Man sollte, wenn überhaupt, Visionen mit Augenmaß formulieren, damit sie tatsächlich umgesetzt werden können. Das Beispiel lehrt uns allerdings nicht, auf Visionen zu verzichten. Visionen gehören zum gesellschaftlichen Handeln stets dazu; denn ohne Visionen gäbe es keinen Fortschritt, ohne sie wäre der politische Alltag nur die bürokratische Verwaltung des Ist-Zustandes. Und den kann man kaum für einen Glückszustand halten – auch nicht im Deutschen Musikleben.
Bezogen auf den Deutschen Musikrat (DMR), ebenfalls eine kulturpolitische Institution ersten Ranges, und seine Perspektiven bis 2012 (eine ja noch recht überschaubare Zeit) sind in den letzten Ausgaben der nmz eine ganze Reihe von hervorragenden Beiträgen geliefert worden, die auf einer differenzierten Analyse der gegenwärtigen Situation beruhen. Ich möchte deswegen am Ende dieser Serie die drei Visionen artikulieren, die mir realisierbar scheinen, weil sie eigentlich Selbstverständliches, aber inzwischen eher verloren Gegangenes beschreiben und weil sie zunächst einmal nicht von zusätzlichen finanziellen Mitteln abhängen, die wir in größerem Umfang sicher nicht in den kommenden Jahren erwarten dürfen.
Vision 1: Der Musikrat wird im Jahre 2012 als EINE eigenständige Größe mit einem eigenständigen Profil in der Politik akzeptiert
Momentan leiden wir in der gesam-ten Arbeit des Deutschen Musikrates unter der Aufspaltung in einen Berliner DMR-e.V., der die politische Arbeit übernimmt, und eine Bonner DMR-gGmbH, die für alle Projekte verantwortlich ist. Solange es noch (bis 2003) den EINEN Musikrat gab, war es gar keine Frage: Die Projekte, waren das erkennbare Signum für musikpolitische Forderungen und Initiativen – von der Künstlersozialkasse über die Rechtsfragen bis hin zur Versorgung der Schulen mit einem ausreichenden Musikunterricht. Die Interdependenz zwischen der sichtbaren Praxis beispielsweise der musikalischen Nachwuchsförderung (Jugend musiziert.Deutscher Musikwettbewerb, SchoolJam usw.) und der Absicherung von Musikunterricht zu vermitteln, war evident. Oder: Dass der Deutsche Chor- oder der Deutsche Orchesterwettbewerb auf eine Breitenbildung angewiesen sind, brauchte nicht ausdrücklich betont zu werden.
Die politische Argumentation des e.V. jedoch verliert heute durch die Aufspaltung massiv an Wirkung und wird gern als Lobbyismus verstanden. Die gGmbH umgekehrt muss ihre Strategien entwickeln, die wesentlich plausibler in den Berliner Gesprächsebenen umgesetzt werden könnten.
Darum die erste Vision: EIN Musik-rat! Selbst wenn wir heute feststellen müssen, dass die jetzige Bundesregierung dies momentan verhindert, so muss dies nicht das letzte Wort bis 2012 sein! Eine absurde, weil kräfte- und finanzenzehrende Lösung bekommt ja nicht dadurch ihren Wert, dass sie immer neu fortgeschrieben wird. Daraus erwächst hier die dringlichste Aufgabe für die kommenden Jahre, um am Ziel politisch zu einer engen Verzahnung von gGmbH und e.V. zu gelangen, nicht weil man sich fasziniert weiß von mächtigeren Organisationseinheiten, sondern weil man mit dieser Verkoppelung wesentlich effizienter, weil integrativer, arbeiten kann – zum Nutzen der Musikpolitik im Lande ebenso wie zum Nutzen der einzelnen gemeinsamen Musik-Projekte.
Vision 2: Der Deutsche Musikrat bildet die Avantgarde der ästhetisch-gesellschaftlichen Diskussion
Zu den Hauptgefahren aller Systeme und Einheiten, so auch denen der Zivilgesellschaft, gehört die ausgeprägte Neigung, sich ausschließlich mit sich selbst zu beschäftigen; ihrer eigentlichen Aufgabe, sich um das zu kümmern, wofür sie einmal gegründet wurden, sind sie sich nur noch eingeschränkt bewusst. Das gilt auch für den kulturellen Sektor, in dem sich Institutionen immer wieder schwer tun, zu überlegen, wie sich das Rezeptionsverhalten von Kultur verändert. Denn die kulturellen Veränderungen, und das macht die Sache so schwer, sind nicht immer genau zu bewerten: Die Schnelllebigkeit, die Ideenvielfalt, das erst Keimende, lassen die Kulturorganisatoren, deren Risikobereitschaft auch nicht immer ausgeprägt ist, vorschnell vor Innovationen zurückschrecken.
Wenn ich mir den Musikrat 2012 aber vorstelle, dann in einer Form von Flexibilität, die auf Veränderungen sehr schnell reagiert, die nicht nur Missstände anprangert, sondern Debatten und Initiativen initiiert.
Wenn wir eines in den letzten Jahren gelernt haben, dann ist es das sich langsame Entwickeln der Künste aufeinander zu. Das müsste sich in Großprojekten niederschlagen, so könnte dies zum Beispiel dazu führen, dass die Musik (einschließlich der Laienmusik!) zusammen mit den Bildenden Künsten und den Theatern nach ganz anderen Vermittlungsformen strebt – und damit gleichzeitig viel nachdrücklicher und mit größerer Effizienz als bisher darum kämpft, dass jedes Kind, dass jeder Jugendliche einen Anspruch darauf hat, am kulturellen Leben zu partizipieren. Den ersten entscheidenden Schritt hat im vorvergangenen Jahr bereits der Deutsche Bundestag mit dem Bericht der Enquete „Kultur in Deutschland“ gemacht. Aber bis 2012 sollte man über das schulterklopfende „Wird schon“ hinausgekommen sein, um die Ergebnisse (zum Beispiel die Frage nach der kulturellen Identität) in erkennbare Projektierungen umzusetzen.
Vision 3: Der Deutsche
Musikrat arbeitet vernetzt
Was in der Grundstruktur des Musikrates bereits angelegt ist – er ist Dachverband von insgesamt 108 Verbänden –, sollte 2012 noch besser als heute funktionieren: Die Kooperation zwischen den einzelnen musikbezogenen Verbänden, den Landesmusikräten und den Ehrenmitgliedern, aber auch gerade zwischen gGmbH und e.V.
Die Vision 2012 fordert eine Aufbruchsstimmung heraus, wie es sie unmittelbar nach der Insolvenz 2002/2003 gegeben hat. Alles stand auf dem Prüfstand, zahlreiche Verkrustungen wurden erst auf Grund des existentiellen Schocks aufgedeckt, und: Verbände entdeckten oft zum ersten Mal andere Mitstreitende in den Medien, in Verbänden, in einzelnen Personen, die sich verpflichtet fühlten, diese zivilgesellschaftliche Institution ersten Ranges nicht einfach „vor die Hunde gehen“ zu lassen. Dabei wurde gerade auch das Verhältnis zu den öffentlichen Händen neu interpretiert, Verantwortlichkeiten wurden gefordert – und übernommen! Diese größte Krise des Musikrates hatte wirklich ihr Gutes: es entstanden inhaltliche Diskussionen zuhauf, die für alle wichtig wurden: Fragen nach dem Musizieren im dritten Lebensabschnitt, nach der Bedeutung der Einrichtung von Ganztagsschulen oder nach dem musikkulturellen Zusammenleben in lokalen und regionalen Räumen, der Frage nach der Einbindung von Musik in wirtschaftliche Kreisläufe. Diese Debatten gingen (meist) in konkretes Handeln über, wobei sich herausstellte, dass die in den Bundesfachausschüssen und Beiräten sofort sichtbare Potenz Veränderungen bringen konnte, wenn man sie denn nur wirklich wollte.
Doch man sollte sich nichts vormachen: Vieles bedarf erst noch der Einlösung. Und darin sehe ich die Chance für 2012: Es werden immer neue Netzwerke innerhalb des DMR entstehen, die die großen und hehren Ziele kleinarbeiten, immer begleitet vom Deutschen Musikrat.
Als Appendix die Vision 4:
Der Musikrat arbeitet effizient und unauffällig antipyramidal
Im Zieljahr, so meine Hoffnung, hat der Musikrat zu einem neuen Arbeitsstil gefunden, der Verantwortung verteilt, der Lust auf Teamarbeit als eine politische Qualität aufkommen lässt. Und diese ist intern frei von den kleinen oder größeren Missgünstigkeiten und Gereiztheiten – um ihrer Effizienz willen. Interne Evaluation und Effizienzkriterien gelten deswegen nicht als störende Zwangsmaßnahmen, sondern verstehen sich als eine sinnvolle, gezielt eingesetzte Form des Managements, die immer wieder rückmeldet, ob sich in diesem Team der Deutsche Musikrat widerspiegelt, was insgesamt zu gelten hat: die Verantwortung für das Deutsche Musikleben, in dem der Musikrat vielleicht nur ein Rädchen ist, aber eines, ohne dass der Kultur-Motor bocken würde.
Unaufgeregt seiner politischen Verantwortung als zivilgesellschaftliche Institution nachzukommen – das ist kein Abstractum, sondern eine leicht einzulösende Aufgabe. Dazu bedarf es nicht der Vision oder des Arztes, sondern nur des Verstandes!