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Wolfhagen Sobirey, Präsident des Landesmusikrats Hamburg, appelliert in einem offenen Neujahrsbrief an Hamburgs Bildungs- und Sportsenatorin Alexandra Dinges-Dierig, die Zukunft des Musiklebens der Hansestadt durch mehr Musikunterricht in Schulen und Kindertagesstätten abzusichern.
Frau SenatorinAlexandra Dinges-Dierig
Behörde für Bildung und Sport
Sehr geehrte Frau Senatorin,
aus Anlass des neuen Jahres schreibe ich Ihnen. Ich wünsche Ihnen persönlich und beruflich ein gutes und erfolgreiches Jahr!
Hoffentlich können wir die Zusammenarbeit für die Musik, die sich im letzten Jahr so positiv entwickelt hat, fortsetzen!
Ihr Senat verfolgt zwei großartige Kulturprojekte: das Projekt Elbphilharmonie und die Modellregion der Kinder- und Jugendkultur. Mit der neuen Elbphilharmonie wird Hamburg täglich gegen 2500 zusätzliche Konzerthörerplätze verkaufen müssen. Dies kann nur gelingen, wenn zusätzliche Publikumsgruppen erschlossen werden, durch interessantere Musikprogramme als bisher und durch mehr Musikunterricht in den Schulen und Kindertagesstätten. Beide Projekte können unserer Erfahrung nach nur gelingen, wenn Ihre Behörde und die Behörde für Soziales und Familie (weil diese für die Kindertagesstätten zuständig ist) mitwirken. Nur in Hamburgs Schulen erreichen wir alle Kinder und Jugendlichen, nur dort können wir alle für die Musik begeistern! Die „kleine“ Kulturbehörde, die grundsätzlich nur für den Nachmittagsbereich der Kinder und Jugendlichen zuständig ist, die in der Regel nur Angebote fördern kann, die freiwillig aufgesucht werden, kann diese großen Ziele nicht allein erreichen.
Aber Musikunterricht ist nur in erster Linie Hinführung zur musikalischen Kunst. Musikunterricht ist mehr. Aus dem druckfrischen Januar-Heft 2006 der renommierten Zeitschrift „Wissen“ (Süddeutsche Zeitung), Seite 58,59, sende ich Ihnen folgenden Ausschnitt, der viel Bekanntes noch einmal kurz zusammenfasst:
„Neueste Studien am Leipziger Max-Planck-Institut belegen ..., dass aktives Musizieren, also die Annäherung an die menschliche Ursprache, auch die Kompetenz im Umgang mit der heutigen Muttersprache steigert.
So untersuchte der Doktorand Sebastian Jentschke 24 Kinder von zehn und elf Jahren: eine Gruppe junger Musiker, deren Großteil im Leipziger Thomanerchor singt, und eine Gruppe junger Nichtmusiker. Obwohl alle Kinder aus demselben sozialen Milieu und von Eltern mit ähnlichem Bildungsstand stammen, registrierte das EEG bei den jungen Musikern stärkere Hirnreaktionen auf sprachliche Syntaxverletzungen als in der Kontrollgruppe. Zudem zeigten die jungen Musiker durchschnittlich einen höheren Intelligenzquotienten. Hinweise darauf, wie wichtig musikalische Erziehung im Schulalter sei, hatten zwar schon mehrere Studien geliefert. Die Leipziger Untersuchung gilt jedoch als erste, die neurophysiologisch belegt, was bisher lediglich zu beobachten war: dass Musik Kinder offenbar klüger macht und auch ihre sozialen Fähigkeiten positiv beeinflusst - für Koelsch „eine nahe liegende Folge“ größerer Sprachkompetenz. Darauf deuteten in Jentschkes Tests zwar nur unwillkürliche Hirnreaktionen hin. Doch decken sich die Befunde mit Beobachtungen, wie sie etwa die Psychologin Maria Spychiger von der Universität Fribourg angestellt hat: von einem deutlich verbesserten Sozialverhalten der Kinder aus 50 Schulklassen, die im Zuge einer Schweizer Studie zwischen 1989 und 1992 zusätzliche Musikstunden genossen hatten, berichtet sie. Der Grund sei wohl, dass die Kinder beim gemeinsamen Musizieren geübt hätten, aufeinander zu achten, sagt Spychiger.
Macht Musik also bessere Menschen? Zumindest bessere Hirne. In den 70er-Jahren hatte erstmals der Wiener Neurophysiologe Hellmuth Petsche gezeigt, dass an der Verarbeitung von Musik im Gehirn nahezu der gesamte Kortex beteiligt ist. Und der Harvard-Neurologe Gottfried Schlaug wies Mitte der 90er Jahre nach, dass der die linke und rechte Hemisphäre verbindende Balken in Musiker-Hirnen stärker entwickelt ist als bei Nichtmusikern. Diese Struktur erleichtert es dem asymmetrischen Zentralorgan, mehrere übers Hirn verteilte Aufgaben zu verbinden, also in Kontexten zu handeln – ob nun sozialer oder technischer Natur. Dass sie sich bildet, ist eine fast automatische Folge des Musizierens. So müssen sich beim Instrumentenspiel beide Hände über die Hirnbrücke hinweg koordinieren. Und auch die weiteren simultanen Aktivitäten etwa des Hörzentrums lassen beim Musiker durch Übung einen Regelkreis entstehen, der nahezu das gesamte Gehirn beansprucht: Die beteiligten Neuronen bilden „Ensembles“, wie Niels Birbaumer an der Universität Tübingen in Hirn-Scans beobachtet hat: Verknüpfungen, die auf andere Weise nicht zustande kommen.
Womöglich darum hat sich Musik längst als Therapeutikum bewährt. Patienten mit geschädigten Hirnarealen, die die Sprache verloren haben, finden durch die „Intonationstherapie“ oft wieder Möglichkeiten zur Kommunikation. Sie versuchen, ihre Wünsche zu singen, was leichter gelingt, weil sich diese Ausdrucksform einer größeren Zahl von Hirnarealen bedient als die Sprache. Musik verhilft autistischen Kindern zur Kontaktaufnahme mit der Umwelt. Und der Leipziger Doktorand Jentschke hofft, dass seine Ergebnisse einmal bei der Behandlung sprachentwicklungsgestörter Kinder helfen...“
Im Namen des Präsidiums des Landesmusikrats in der Freien und Hansestadt Hamburg bitte ich Sie um ein Gespräch. Wir möchten Ihnen Anregungen vortragen, wie die BBS den Weg zur Musikmetropole, den Weg zur Elbphilharmonie und zur Modellregion ebnen kann.
Ich werde mir erlauben, Herrn Tiburtius um einen Termin zu bitten.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfhagen Sobirey, Präsident des Landesmusikrats Hamburg
Hamburg, 6. Januar 2006