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Musik als Stressfaktor

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Von wegen stille Nacht - Oh du fröhliche Weihnachtszeit: Wenn Adventslieder stressen - «Ich kann Jingle Bells nicht mehr hören» - Mediziner und Juristen im Deutschen Arbeitsring für Lärmbekämpfung (DAL) kämpfen gegen Zwangsbeschallung und Dauerberieselung

München (ddp-bay). «Ich kann es einfach nicht mehr hören», sagt die sichtlich gestresste Verkäuferin eines großen Münchner Kaufhauses. Festliche und besinnliche Weihnachtsstimmung stellt sich bei ihr und ihren Kolleginnen nicht ein - auch wenn schon seit Stunden «Oh du fröhliche», «Leise rieselt der Schnee» und vor allem - passend zum Weihnachtsgeschäft - «Ihr Kinderlein kommet» aus den Lautsprechern tönt. Den ganzen Tag über dudeln die ewig gleichen Lieder und das schon lange vor der Adventszeit.

Auf der Seite der Bürger kämpfen schon seit 1952 Mediziner und Juristen im Deutschen Arbeitsring für Lärmbekämpfung (DAL) gegen Zwangsbeschallung und Dauerberieselung. «Musik bedeutet einen zusätzlichen Stressfaktor für die Verkäufer», betont Ludger Visse vom DAL in Düsseldorf. Er appelliert an die Kaufhäuser und Supermärkte, doch bitte nur in der Adventszeit zur Weihnachtsmusik zu greifen und fordert sogar einen Lohnzuschlag wegen Arbeitserschwernisses am Arbeitsplatz. Auch DAL-Geschäftsführer Rainer Kühne pflichtet seinem Kollegen bei: «Dieser Trubel durch die laute Geräuschkulisse macht einen Einkauf viel zu anstrengend.» Die Dudelei sei ein «Störfaktor größten Ausmaßes». Er kaufe nur noch im Internet ein - ganz in Ruhe.

Um musikfreie Zonen und gegen aufgezwungene Zwangsbeschallung kämpft auch der internationale Verein «Pipe down». Er setzt sich für ein Recht auf Stille ein. Der deutsche Ableger streitet unter dem Namen «Lautsprecher aus!» im schleswig-holsteinischen Appen-Etz für ruhige Nischen. Der gemeinnützige Verein will die «allgegenwärtige, permanente akustische Plage» eindämmen und wehrt sich gegen die unablässige Dauerberieselung.

Normale Ladenmusik ist nach Angaben der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel (BGE) aber noch lange kein Lärm. Die Berufsgenossenschaft ist für den Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zuständig und hat bereits Lärmmessungen in Kaufhäusern durchgeführt. «Musik ist allgemein so eingestellt, dass Verkaufsgespräche noch problemlos stattfinden können», sagt der technische Aufsichtsbeamte Kurt Kropp in Bonn. Der Gesprächsgeräusch-Tagespegel könne je nach Kundenfrequenz bis über 70 Dezibel betragen, der Musikpegel liege deutlich darunter. Erst ab 85 Dezibel muss mit Gesundheitsschäden gerechnet werden. Anders sehe es indes, je nach Geschmack, mit der psychischen Belastung aus, betont Kropp.

Der Geschäftsführer des Kaufhauses Karstadt-Oberpollinger, Wolfgang Wirz, in München hält nichts von akustischer Untermalung in seinem Laden: «Wir haben so gut wie keine Musik, der Geräuschpegel ist in einem so großen Haus sowieso schon sehr hoch.» Nur in der Abteilung junge Mode laufe, räumlich begrenzt, Hip Hop, aber keine Weihnachtsmusik. Die jungen Leute wollen das hören. Er kann den Frust der Verkäufer verstehen: «Es ist wirklich öde, den ganzen Tag \'Kling Glöckchen\' hören zu müssen.»

Auch im Kaufhof am Marienplatz nur dezente Hintergrundmusik. Das Haus wird nach Angaben des Geschäftsführers Wolfram Struth ebenfalls nicht komplett beschallt. Hier spielt die Musik für die rund 1000 Mitarbeiter nur punktuell auf dem Weihnachtsmarkt im vierten Stock und vor den Schaufenstern. Auch erklingen die stimmungsvollen Weisen erst nach dem Totensonntag Ende November.

Die Kunden wollen und erwarten weihnachtliche Töne, betonen die Einzelhandelsverbände. Der Hauptgeschäftsführer des Landesverbandes der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels in Bayern (LAG), Wolfgang Fischer, versichert: «Die Hintergrundmusik wird gut angenommen von den Kunden.» Und wenn sie dezent spiele, sei es auch kein Stressfaktor für die Verkäufer. Natürlich sollten nicht schon ab August Adventslieder durch die Abteilungen schallen. Auch sein Kollege vom Landesverband des Bayerischen Einzelhandels, Bernd Ohlmann, ist überzeugt: «Die Kunden wünschen, wollen und erwarten Weihnachtsmusik.» Schließlich wolle ja niemand im Dezember «Sunshine Raggae» oder «Veronika, der Lenz ist da» hören. In seinem Verband sei nicht bekannt, dass sich jemals ein Verkäufer beschwert hätte.

Dagmar Rüdenburg, Fachbereich Handel von der Gewerkschaft ver.di Bezirk München und zuständig für Verbrauchermärkte, kennt indes schon eher die Klagen der Beschäftigten: «Viele wollen mit ihren Familien an Heilig Abend keine Weihnachtslieder mehr hören.» Ob, ab wann, wie laut und welche Musik in den Läden zu hören ist, sei eine unternehmerische Entscheidung. «Verhindern lässt sich das nicht», sagt sie. Auch sei das Problem nicht die Lautstärke, sondern die ununterbrochene Wiederholung der immer selben zehn Lieder. Na dann «Fröhliche Weihnachten».

Ines Treffler