schon immer nichts anderes als Lärm war. Spätestens bis zum 15. Februar 2006 muss auch in der Bundesrepublik Deutschland die „Europäische Richtlinie über Mindestvorschriften zum Schutz vor Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkung (Lärm)“ in nationales Recht umgesetzt sein. Sie gilt für alle Arbeitnehmer, also alle abhängig beschäftigten Personen, die einer tatsächlichen oder möglichen Gefährdung ihrer Gesundheit und Sicherheit durch die Einwirkung von Lärm ausgesetzt sind. Der so genannte Wochen-Lärm-Expositions-Pegel darf den Grenzwert von 87 Dezibel (dBA) nicht überschreiten.
Diese Regel gilt ohne jede Ausnahme. Fast alle in deutschen Kultur- und sonstigen Orchestern beschäftigen Musiker sind Arbeitnehmer, deren Aufgabe nach herkömmlicher Auffassung darin besteht, Schallwellen zu erzeugen, die zwar der Erbauung des Publikums dienen, andererseits aber den europäischen Grenzwert in der Regel überschreiten. Dass Schallwellen eine physikalische Einwirkung auf den Menschen haben, wird auch der Musikliebhaber nicht bestreiten, und jetzt weiß der Leser, warum dieser Beitrag in dieser Zeitschrift erscheint: Es geht um die Anwendung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften auf die abhängig beschäftigten Musikproduzenten. Natürlich weiß auch die EU-Kommission, dass das Vereinte Europa, wie es in Art. 151 EG-Vertrag heißt, „einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ leistet. Nicht zuletzt deshalb hat sie wohl in der Nr. 13 der so genannten Vorerwägungen, die jeder Richtlinie vorangestellt sind und die für die Auslegung eine besondere Bedeutung haben, formuliert: „Die besonderen Charakteristika des Musik- und Unterhaltungssektors erfordern einen praktischen Leitfaden, der eine wirksame Anwendung der Bestimmungen dieser Richtlinie gewährleistet.“ Die Liebe der EU-Kommission zur Musik geht aber nicht so weit, die angestellten Orchestermusiker vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen. Art. 5 der Richtlinie nennt im Einzelnen die zu ergreifenden Maßnahmen zur Verringerung oder Vermeidung der Lärmexposition. Vorgeschlagen werden etwa alternative Arbeitsverfahren, also quasi das Musizieren ohne Musikinstrumente, die Auswahl geeigneter Arbeitsmittel, also Musikinstrumente, die keine Schallwellen erzeugen, die Gestaltung und Auslegung der Arbeitsstätten und Arbeitsplätze, also jeder Musiker musiziert für sich allein in seinem Zimmerchen, die technische Lärmminderung, also die Entwicklung völlig neuartiger Musikinstrumente, die Luftschallminderung durch Abschirmungen, also die Einkapselung der Orchestermusiker in Schallschutzkabinen, sowie die arbeitsorganisatorische Lärmminderung vor, also die Begrenzung der Dauer der Exposition, mit anderen Worten: die Kürzung der Musikstücke. Aber immerhin gibt es ein Schlupfloch in Art. 6 der Richtlinie. Denn, wenn genannte Maßnahmen nicht greifen, müssen für die Arbeitnehmer „Maßnahmen zum persönlichen Gehörschutz“ eingesetzt werden, also: Ohropax, Kopfhörer und ähnliche Gerätschaften. So wird es dann wohl sein: Die Musiker musizieren mit verstopften Ohren. Niemand bestreitet, dass das Berufsrisiko des Berufsmusikers vor allem darin besteht, Gehörprobleme zu erleiden, wie übrigens das Berufsrisiko des Balletttänzers oder Berufssportlers im Bereich des Gelenkverschleißes et cetera liegt. Arbeitnehmerschutzrecht und die Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Kunstausübung (Art. 5 GG), das Recht auf Ausübung und Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen, wie sie sich über Jahrhunderte entwickelt haben, treten so in einen Zielkonflikt, der eleganter gelöst werden sollte als mit Ohrstöpseln. Muss denn wirklich alles bis ins Letzte geregelt werden? Ist wirklich das Geräusch einer Kreissäge identisch mit dem der schmetternden Trompete? Ist Musik Lärm, und wenn ja, gibt es guten und schlechten Lärm, und müssen wir auch den guten Lärm verbieten? Nicht selten gilt: Weniger ist mehr.
Hinter der hier dargestellten Problematik steckt aber möglicherweise noch wesentlich mehr: Die europäische Richtlinie gilt nämlich nur für Arbeitnehmer, nicht für freiberufliche Musiker. Liegt es daher nicht nahe, dass der Druck auf den Arbeitnehmerstatus der Orchestermusiker noch wesentlich verstärkt wird? Insbesondere deshalb, weil das Thema „Osteuropäische Musiker“ (vgl. dazu nmz 12/04-1/05, S. 9) dadurch eine neue Brisanz bekommt. Diese Musiker werden eben gerade meistens nicht als sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer angestellt, sondern als freie Mitarbeiter, selbstständige Künstler oder in welcher arbeits- und sozialrechtlichen Verkleidung auch immer. Orchester, die mit solchen Musikern zusammengestellt werden, fallen dann nicht unter den Anwendungsbereich der Richtlinie, sie haben dann nicht nur einen „Billiglohn- und Sozialversicherungsvorteil“, sondern zudem noch das „Privileg“, ohne aufwendige und teure Lärmschutzmaßnahmen, beziehungsweise ohne künstlerische Leistungseinbuße durch Kopfhörer das Publikum zu erfreuen. Ist das gewollt?