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Perspektiven einer Kunst des 21. Jahrhunderts

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Das Symposion „...über die Grenzen“ auf der 7. Münchener Biennale · Von Josef Singldinger
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Unsicherheit ist zunächst das Resultat einer sich rapide verändernden Welt. Die Systeme allgemein und als Ganzes und auch in ihren besonderen Teilen sind in Frage gestellt. Kunst, soll sie Wirkung haben, muss öffentlich werden. Damit gerät sie in die Abhängigkeit von Systemen, von Apparaten, von politischen Machtverhältnissen. Die Künstlerinnen und Künstler seien, so Gerhard R. Koch, Musikkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, heute viel zu unpolitisch, kümmerten sich nicht um die politischen Dimensionen der Kunst. Wer von seiner Kunst, nicht nur mit ihr leben will, muss heute auf vielen Feldern tätig werden, insbesondere auf dem Feld der Kulturpolitik. Dass beispielsweise in den USA keine staatlichen Gelder mehr für Kompositionsaufträge ausgegeben werden (wie übrigens auch nicht mehr in Berlin), ist schon jetzt am fehlenden Nachwuchs in der Kunstmusik des reichsten Landes der Welt spürbar, bemerkte die Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte-Haber.

„Unsicherheit ist etwas Schönes“, sagte zu Beginn des Symposions der Münchner Komponist Wilhelm Killmayer und traf damit ins Schwarze; denn wir verbinden mit Unsicherheit primär wohl einen negativen Zustand, ahnen aber zugleich, dass sich in ihr etwas Neues, Noch-nicht-Entdecktes verbirgt. Drei Tage lang redeten Kunst-, Sozial-, Literatur- und Musikwissenschaftler, Philosophen, Kritiker und Komponisten über die „Perspektiven einer Kunst des 21. Jahrhunderts“. Der Titel des Symposions: „...über die Grenzen“. Wie bereits in den vergangenen Jahren wurden die musikalischen Produktionen auf der 7. Münchener Biennale, dem „Internationalen Festival für Neues Musiktheater“ von einem Theorie-Diskurs begleitet. Die Zukunft der Neuen Musik stand im Zentrum. Unsicherheit ist zunächst das Resultat einer sich rapide verändernden Welt. Die Systeme allgemein und als Ganzes und auch in ihren besonderen Teilen sind in Frage gestellt. Kunst, soll sie Wirkung haben, muss öffentlich werden. Damit gerät sie in die Abhängigkeit von Systemen, von Apparaten, von politischen Machtverhältnissen. Die Künstlerinnen und Künstler seien, so Gerhard R. Koch, Musikkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, heute viel zu unpolitisch, kümmerten sich nicht um die politischen Dimensionen der Kunst. Wer von seiner Kunst, nicht nur mit ihr leben will, muss heute auf vielen Feldern tätig werden, insbesondere auf dem Feld der Kulturpolitik. Dass beispielsweise in den USA keine staatlichen Gelder mehr für Kompositionsaufträge ausgegeben werden (wie übrigens auch nicht mehr in Berlin), ist schon jetzt am fehlenden Nachwuchs in der Kunstmusik des reichsten Landes der Welt spürbar, bemerkte die Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte-Haber. Pessimistisch sehen der Philosoph Wolfgang Welsch und der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp die Entwicklung. Beide stellten zunächst fest, dass Prognosen im kulturellen Bereich nicht möglich sind, denn Kultur lebt nicht von gesetzmäßigen Vorgaben, sondern von sich ständig verändernden Wahrnehmungen und Intentionen. Aber die Aktivität unserer Wahrnehmungen lässt zu wünschen übrig. Welsch sprach von den „lahmen Flügeln unserer kulturellen Imagination“, vom „Diktat der Ökonomie und der Technologie über die Kunst“ und verurteilte den „animatorischen Bildersuff“, in dem wir zu ertrinken drohen.

Auch Kemp stand ihm mit seinen zeitdiagnostischen Bemerkungen nicht nach, allerdings das, was war oder noch ist, nicht verteidigend. Die alten vorhandenen Institutionen würden schnelle Entscheidungen ausbremsen. Wer an wessen Tropf hänge, das sei die Frage. Man könne die Tendenz beobachten, sich in den Bereichen der Kunst mit „Eigensystemen für die Ewigkeit aufzuforsten“. So gesehen degeneriere Kunst – am Ende ihrer Geschichte oder der Geschichte überhaupt – zu einem „säkularen Überlebensversuch des Darwinismus“ und „zur Ausdauer der Hinterbliebenen“.

Diese beiden Positionen, die einer mehr der Tradition verpflichteten von Wolfgang Welsch und die einer noch längst nicht begriffenen Öffnung in eine unbekannte Zukunft von Wolfgang Kemp, bildeten den Rahmen für die Gespräche über das Komponieren in unserer Zeit. Wie soll es weitergehen? Was soll noch gefunden werden, nachdem im 20. Jahhundert fast alles abgeräumt worden ist? Helga de la Motte-Haber meinte, die eigentlichen Veränderungen der Kunst hätte man um 1900 erwartet. Das Jahr 2000, in das man so viel hineininterpretiert, sei lediglich ein Medienspektakel.

Ist die Klangkunst der Zukunft in den vergangenen 100 Jahren ausgeschöpft worden? Mauricio Kagel hat einmal bemerkt, man müsse heute nicht mehr an Klang und an Material orientiert sein. Aber es wird weiter komponiert, ob mit zwölf oder sieben Tönen oder im mikrotonalen Bereich, das Material, die Form und eine poetische Idee müssten immer neu erfunden, neu gefunden werden, sagte de la Motte-Haber. Das Material ist die Erfahrung, aus der Freiheit und Emanzipation des Künstlers/der Künstlerin wachsen würden.

Vielleicht muss man sich auch erst einmal klar machen, dass Kunst nicht wie die Philosophie universalistische Tendenzen verfolge, wie Albrecht Wellmer in seinem Referat betonte. Er sprach über heute relevante Positionen in der Kunst. So habe Karlheinz Bohrer kürzlich ein Plädoyer für die „autonom gewordene Kunst“ verfasst. Bohrer, so Wellmer, meint damit ein „ekstatisches Heraustreten aus der Welt“, eine „dionysische Verweigerung von Sinn und Realität“ und die „Emanzipation des absolut Schönen vom Wahren“ der Kunst.

Kunst und Welt

Eine andere, heute wiederkehrende Position sei der Rückgriff auf kunstpolitische Perspektiven der 68er-Jahre, wie sie zur Zeit an der Berliner Schaubühne bemüht werden. Dort wird die alte Frage, wie heute Gesellschaftskritik in Kunst zu übersetzen sei, neu gestellt. Was daraus wird, wissen wir nicht, denn das spezifische Neue könne nicht antizipiert werden.

Trotzdem erkennt Wellmer eine neue Idee des postdramatischen Theaters, in dem Handlung, Rolle und das Narrative nicht mehr relevant sind. Vielleicht sei darum auch der Erfolg des Tanztheaters heute so groß, weil über den Körper verheimlichte Energien freigesetzt würden, weil „dionysische und energetische Momente gegen Sinn und Logos“ hier ausgedrückt würden.

Das interdisziplinäre Gespräch über Kunst konstituiert Kunst selbst neu. Dieses Gespräch ist auch notwendig, um Kunst „lesen“ zu können. Wenn man davon ausgeht, wie der Münchner Kultureferent Julian Nida-Rümelin, der auch Philosophie-Professor ist, dass Kunst auch Folgen in der „Lebenswelt“ haben wird (oder haben soll), kommt man um die Frage, was denn Kunst sei, nicht herum. Es gibt Tausende von Antworten, vor allem wenn man bedenkt, dass jedes Werk der Kunst, wie Nida-Rümelin resümiert, seine Bedeutung auf Grund der Intention seiner Betrachter gewinnt. Oder einen Schritt weiter, wie Theodor W. Adorno, der immer wieder zitiert wurde, einst forderte: „Die Realität soll die Kunst nachahmen.“

Alles ist im Fluss. Das war immer so. Was das aber wirklich heißt, erkennen wir erst heute in den Wechseln der Paradigmen in unserer Zeit. Die Situation ist verfahren. Einerseits sind die objektiven Gegebenheiten immer noch bestimmend, andererseits weiß man auch nicht annähernd genau, ob die Ideen, die die Künstlerinnen und Künstler in die Welt setzen, auch eine Wirkung haben auf die subjektiven Betrachtungsweisen des Publikums. Im Grunde genommen wird gerade ein spannendes Konzert aufgeführt.

Mit spezifischen Einfällen. Heute wird in unserem so nüchternen Zeitalter auffallend expressiv komponiert. Nike Wagner, die hoffentlich bald in Bayreuth mitentscheiden kann, wies auch auf den Trend dieser Ausdrucksweisen hin: Das Expressive wirkt auf der Sprechbühne peinlich, komme jedoch gut an beim neuen Musiktheater. Die Frage sei erlaubt: Soll vor allem die Musik wirken, Bühne und Regie nur nebenher laufen? Attribute der neuen Opernkonzepte seien Neutralität der Texte und der Antirealismus der Stoffe. Die neuen Opern bauten auf die Wiedergabe extremer Erfahrungen und hätten kein Handlungsziel. Keine Spur von Erzählung. Keine Spur von Logik. Jedoch ergäbe sich eine neue Dramatik aus dem Verhältnis, das die Texte zueinander und gegeneinander in Verbindung bringt, und auch aus der Spannung, die sie aus ihren Überlagerungen beziehen.

„Wir arbeiten nicht mehr mit soliden Einheiten. Der Bezug von Komponist und Material, das ist das neue Material.“ Einleuchtender kann man wohl kaum formulieren, was die junge Generation von Musikern bewegt, wie es die israelische Komponistin Chaya Czernowin getan hat. Ihre eben auf der Biennale uraufgeführte Oper „Pnima ... ins Innere“, war das herausragende Ereignis des diesjährigen Festivals.

Komponieren im Kontinuum

Helmut Lachenmann, der bekanntlich alle Teile einer Geige für seine Kompositionen verwendet, versucht nichts anderes als eine Art Urgeige zu entdecken. Die gibt es sicher nicht. Aber eine „frische, neue, unbelastete Wahrnehmung“. Chaya Chernowin fuhr fort: Es gehe darum, das Instrument als Ganzes und in allen seinen Teilen zu erkunden. Das Kontinuum, das immer war beziehungsweise ist, sei neu zu verwirklichen, gleichgültig ob in konsonanter oder dissonanter Form, gleichgültig mit welchen Klängen, in welchem Stil.

Wilhelm Killmayer nannte die Alternative. Er sprach von Impulsen, die auskomponiert oder nur als kurze Klangassoziationen in Töne gesetzt werden. Sie würden einen Zusammenhang herstellen, eine zusammenhängende Schrift bilden. Mehr sei nicht möglich. Keine Linearität. Die 43-jährige Komponistin Chaya Czernowin widersprach dem 73-jährigen Komponisten: „Es gibt eine Struktur. Sie sieht aus wie ein Berg, auf dem viele Wege liegen. Man sieht die Wege – logisch, klar, lesbar. Es ist möglich den Berg – das Werk – kennen zu lernen. Ich weiß noch nicht, wie ich gehe. Ich sehe Landschaften und – ich sehe noch nicht die Landschaften hinter den Landschaften. Aber ich werde sie sehen.“

 

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