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55 Jahre nach der kriegsbedingten Auslagerung der Bestände und der Teilung Deutschlands in zwei Staaten konnten kürzlich die wertvollen Schätze der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin vereinigt werden. Bisher auf die beiden Standorte der Staatsbibliothek verteilt, befindet sich jetzt die größte öffentliche Musiksammlung Deutschlands, eine der bedeutendsten der Welt, wieder einzig und allein an ihrem historischen Ort Unter den Linden 8. Dort werden über 66.000 Autographe und Handschriften, 80.000 Briefe, 400 Nachlässe, 440.000 Notendrucke und ungefähr 100.000 Bände musikwissenschaftlicher Literatur aufbewahrt. Anläßlich der Zusammenführung ihrer Musiksammlung lud die Staatsbibliothek zu Berlin am 11. November 1997 zu einem Festakt, bei dem neben Helmut Hell, Leiter der Musikabteilung, und anderen Rednern auch Martin Bente, Geschäftsführer beim G. Henle Verlag München, einen Vortrag hielt. Bente ging in seiner Rede auch auf das Spannungsfeld zwischen Musikforschung und Verlagsarbeit ein. Die neue musikzeitung druckt seine Ansprache in Auszügen ab.
Für den heutigen Tag wurde ich gebeten, einige Worte über die Wechselbeziehung von Musik-bibliotheken und Musikverlagen und ihre Bedeutung für die Musikforschung zu sagen. Das tue ich gern, zumal es ja Leute geben soll, die sagen, Bibliotheken, zumal staatliche, kosteten den Staat nur einen Haufen Geld, und Verlage seien ja in erster Linie profitorientiert. Wenn nun solche Institutionen sich für die Forschung engagieren, was mag da wohl für die Allgemeinheit herauskommen?
Bibliotheken und Verlage sind, je für sich oder im Zusammenwirken miteinander, Katalysatoren, die sich nicht verändern, verbrauchen oder gar ihre Identität verlieren. Im Gegenteil! Ohne sie – so meine These – ginge nichts in der Forschung! Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen darlegen. Meine hier anwesenden Verlegerkollegen mögen mir verzeihen, wenn ich mich dabei auf Beispiele unseres Hauses stütze. Im Kern sind auch ihre der Wissenschaft, der Forschung und der Praxis dienenden Unternehmungen vergleichbar einbezogen.
Es ist wohl kaum ein anderer Musikverlag so umfangreich im musikbibliographischen Bereich engagiert, wie unser Haus. Ich sage bewußt im bibliographischen Bereich, andere Musikverlage wie Bärenreiter zum Beispiel wohl mehr im musikenzyklopädischen Bereich. Drei große Reihen von Quellenrepertorien, Handschriften- oder Bibliothekskatalogen befinden sich zum Teil schon seit Jahrzehnten in unserem Verlagsprogramm: Das ist einmal das seit 1960 (also seit 37 Jahren) erscheinende „Repertoire International des Sources Musicales“, nach den Initialen auch kurz RISM genannt, das wohl umfassendste Quellenlexikon der Musik. Es erfaßt und verzeichnet weltweit sämtliche Handschriften wie auch gedruckte Quellen zur älteren Musik in Repertorien und Katalogen.
Ein solches Projekt ist nur mit staatlicher oder internationaler Kulturförderung möglich, erarbeitet an den großen Staats- und Landesbibliotheken, vornehmlich in Europa und in den USA. Doch sie blieben letztlich von lokaler Bedeutung ohne verlegerische Realisierung und Verbreitung. In der vom Henle Verlag betreuten Reihe sind bisher 24 Bände erschienen, in der von Bärenreiter (alphabetische Reihe der Musikdrucke) elf Bände, und beim KG. Saur-Verlag (Musikhandschriften nach 1600) liegt seit zirka zwei Jahren eine umfassende CD-ROM vor mit verschiedenen up-dates. Ein weiteres Repertorium bilden die „Kataloge Bayerischer Musiksammlungen“, herausgegeben von der Generaldirektion der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken in München, die alle wichtigen öffentlichen, kirchlichen und privaten Sammlungen handschriftlicher Quellen zur Musik verzeichnen und erschließen, Sammlungen, die sich trotz Säkularisation und Kriege noch zahlreich in Bayern befinden (darunter Bayerische Staatsbibliothek, Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg). Seit 1971 sind 27 Bände erschienen, weitere folgen. Eine dritte Reihe betrifft die verlegerische Betreuung der Kataloge der Musiksammlung dieses Hauses, die allein für die älteren Handschriften auf nicht weniger als 14 Bände konzipiert ist. Vier liegen erst vor, ein 5. Band erscheint in kürze, weitere befinden sich in Vorbereitung. Welch ein Potential an Quellen zur Musik ist hier für die Forschung aufbereitet!
Nun, meine Damen und Herren, wer unser Haus kennt, dessen Verlagsarbeit im Grunde doch ganz der Veröffentlichung klassischer Musik in praktischen Ausgaben verpflichtet ist, wird sich fragen, wieso ein solcher Verlag sich so stark im aufgezeigten lexikographischen Bereich engagiert. Wirtschaftliche Erwägungen können kaum im Vordergrund stehen, denn mit dieser Art von Katalogen sind keine großen Auflagen verbunden.
Das Engagement entspringt der Erkenntnis, daß ein Verlag wie der unsere die Handschriften und Erstausgaben der großen Komponisten als Basis für seine editorische Arbeit benötigt, wo immer sie aufbewahrt sein mögen, und ist somit auf die enge Zusammenarbeit mit den Archiven und Bibliotheken, den privaten Sammlern und den Musikforschern angewiesen. Ein Verlag, der diese Institutionen und deren Archivalien für sich in so starkem Maße in Anspruch nimmt, hat auch eine gewisse moralische Verpflichtung zur Gegenleistung, nämlich mitzuhelfen, die wissenschaftliche Forschung durch die Publikation von Katalogen zu erleichtern, um deren Ergebnis dann auch wieder für sich nutzbar zu machen. Es wird eine spürbare Erleichterung sein, wenn moderne Mittel der Erschließung von Handschriften wie die Microfiches, die elektronische Datenerfassung und Verarbeitung, die Speicherung großer Informationsmengen auf CD-ROM künftig die gedruckten Kataloge ersetzen können. Sie werden die Musikforschung nicht grundlegend revolutionieren, aber doch wesentlich beeinflussen, indem sie mehr und leichter verfügbare Hilfen und Informationen bereitstellen.
Faksimiles zur Anschauung
Zur Erschließung von musikalischen Quellen, beispielsweise bedeutender Autographe oder seltener Drucke, gehörte schon immer die Faksimilierung, auf die ich jetzt kurz eingehen möchte. Wenn Faksimiles früher eher die Funktion des Anschauungsmaterials hatten, als Dokumentation der Schriftzüge eines Komponisten, dient die Faksimilierung heute mehr denn je der Erhaltung vom Verfall besonders bedrohter Quellen. Sie sollten denn auch höchsten Anforderungen genügen in der Reproduktion, im Druck, in der Farbgebung, um mehrschichtige Kompositions- oder Korrekturphasen unterscheiden zu können. Für mich sollte ein Faksimile letztlich alle Fragen und Informationswünsche beantworten helfen, wie das Original selbst. Was durch die Reproduktion nicht unmittelbar vermittelt werden kann, muß der Kommentar enthalten.
Ein heuer im Brahms-Gedenkjahr erschienenes Faksimile der Klavierfantasien op. l16 läßt deutlich die eigenhändigen Korrekturen von Brahms erkennen, die er entweder mit Bleistift oder Tinte vorgenommen hat und gibt dem Faksimile damit unmittelbaren Quellenwert. Nun kann das Original vor weiterer Benützung verschont werden! Ein Glücksfall war es, als wir mit der Faksimilierung von Schuberts Violinsonatine in D-Dur, op. 137, ein in drei Teile und auf zwei Kontinente auseinandergerissenes Manuskript wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen konnten. 16 Seiten befinden sich in deutschem Privatbesitz, zwölf in der Universitätsbibliothek in Lund (Schweden), ein Einzelblatt liegt in der Newberry Library Chicago. Heute trägt das Faksimile in der Übermittlung des ursprünglichen Zustandes dazu bei, den Entstehungsprozess des Werkes zu rekonstruieren, seine Überlieferungsgeschichte nachzuvollziehen und ein Stück Werkgeschichte Schuberts zu schreiben, ohne die Einzelteile an drei nicht ohne weiteres zugänglichen Orten aufspüren zu müssen. Lassen Sie mich als drittes Beispiel einige Gedanken äußern zur Bedeutung der Bibliotheken, Institute und Verlage als Katalysatoren der Forschung innerhalb der wissenschaftlichen Gesamtausgaben der Werke großer Komponisten. In Anlehnung an einen Ausspruch von Lenin, Revolutionen seien die Lokomotiven der Geschichte, pflegte mein Lehrer Walter Gerstenberg zu sagen: „Gesamtausgaben sind die Lokomotiven der Musikgeschichte“.
Durch die Gesamtausgaben ist die Musikforschung überhaupt erst zu einer wissenschaftlichen Disziplin geworden. Beispielhaft seien hierzu genannt die Entwicklung der musikalischen Quellenkritik, der Einfluß der Quellenkritik auf die Editionspraxis, ihr Niederschlag im Musikverlagswesen und nicht zuletzt ihr Einfluß auf die Aufführungspraxis älterer Musik.
Musikalische Praxis
Um das Gesamtwerk eines Komponisten wissenschaftlich zu edieren und für die Praxis zugänglich machen zu können, bedarf es eines engen Zusammenwirkens von Bibliotheken, Forschungsinstituten, Verlagen und der in der Praxis stehenden Interpreten. Daß dies so ist, dokumentiert sich anschaulich an der Wiederentdeckung der großen Opern von Haydn auf den internationalen Bühnen. Diese wäre ohne eine vorausgegangene Neuausgabe aller seiner Werke wohl kaum möglich geworden. Zum Durchbruch haben gewiß die Kasseler Musiktage des Jahres 1982 wesentlich beigetragen, also die musikalische Praxis. Und unabhängig davon war auch ein besonderer Promotor der Opern Haydns, nicht nur seiner Sinfonien, der Dirigent Antal Dorati – also auch hier die musikalische Praxis. Die Musikverlage aber sind es, die das von den Instituten wissenschaftlich aufbereitete Werk eines Komponisten dieser Praxis zugänglich machen. Diesen verlegerischen Initiativen wird im Grunde viel zu wenig Bedeutung beigemessen. Dabei wären ohne das Engagement der Verlage solche Riesenprojekte wie eine Gesamtausgabe, die sich über Jahrzehnte hinziehen können, gar nicht realisierbar.
Ganz zu schweigen von den Kosten, mit der die Anfertigung von Aufführungsmaterialien einer Oper verbunden sind. Oder: während die alte Brahms GA von Breitkopf & Härtel, die in den Jahren 1926-1928 in 26 Bänden erschien, nur wenige Jahre benötigte, sollen nun innerhalb der neuen Brahms-Gesamtausgabe 65 Bände erscheinen, wofür jetzt ein Zeitraum von 35 Jahren vorgesehen ist. Wissenschaftliche Kriterien und die wirtschaftlichen Voraussetzungen haben sich in den letzten Jahrzehnten wahrlich grundlegend geändert. Diese Tatsache stellt die Verlage wie die Forschung zwangsläufig vor die Frage nach der Finanzierbarkeit solcher Projekte. Die alte Werkausgabe von Brahms war sicherlich nicht vom Staat unterstützt worden, sie konnte offensichtlich rein kommerziell realisiert werden. Heutige wissenschaftliche Unternehmungen dieser Art wären durch eine verlegerische Betreuung allein nicht mehr finanzierbar. Dies manifestiert sich schon in der Tatsache, daß ein hauptamtlicher Mitarbeiter eines Forschungsinstituts für die Herausgabe eines einzigen Partiturbandes mehrere Jahre Zeit benötigt. Dabei stellt sich die Frage, ob die Ausgabe einer Sinfonie heute unbedingt den Charakter einer Werkmonografie annehmen muß, die nicht nur mit viel quellenkritischem Aufwand bemüht ist, das Werk zuverlässig zu edieren; sie hat zugleich das Ziel, sämtliche Aspekte seiner Überlieferung darzulegen, einschließlich der Rezeptionsgeschichte, aber den Bezug zur Praxis läßt sie womöglich vermissen. Hier droht die Edition zum wissenschaftlichen Selbstzweck zu werden. Aus diesen Beispielen wird deutlich, wie wichtig es ist, daß Wissenschaft und verlegerische Praxis sich gemeinsam um praktikable Editionskriterien und ebensolche Textgestaltung bemühen, um zu verhindern, daß Wissenschaft und Praxis auseinander driften. Mein Lösungsvorschlag wäre ganz einfach: Jedes wissenschaftliche Editionsinstitut dürfte nur Mitarbeiter einstellen, die mindestens zwei Jahre in einem Musikverlag die Lektoratsarbeit kennengelernt haben. „GA als Lokomotiven der Musikgeschichte“ – ,Musikbibliotheken und Musikverlage als Katalysatoren der Forschung“ – wie, meine Damen und Herren, bringen wir diese Themen auf einen Nenner?
Meine Antwort: Befrachten wir die Werkedition nicht mit so viel textkritischem Apparat, denn sie muß musikalisch-praktischen Belangen Rechnung tragen. Textkritik, Lesartenverzeichnisse, Quellenfilation und dergleichen mehr sind heute in gedruckter Form kaum mehr als ein so umfangreicher Bestandteil eines Partiturbandes verantwortbar. Hier könnten die neuen elektronischen Medien (CD ROM) entlastend zum Tragen kommen: alles zusammengefaßt auf einer kleinen Silberscheibe als Beilage zum Gesamtausgaben-Band. Meine diesbezüglichen Vorstellungen gehen sogar soweit, daß man unterschiedliche Textüberlieferungen oder Lesarten klanglich veranschaulichen könnte, ohne daß es umfangreicher Notenbeispiele oder Beschreibungen bedarf. Das auf vielfältigen Ebenen, mit viel Fleiß und Forscherdrang zusammengetragene Wissen könnte miteinander verknüpft werden zu einem großen gebündelten Nachschlagewerk. Ein umfassendes thematisch-bibliographisches Verzeich-nis der Werke Beethovens zum Beispiel, mit allen denkbaren Informationen über sein Gesamtœuvre, verknüpft mit der Korrespondenz des Komponisten und mit den neuen Forschungsergebnissen der neuen Gesamtausgabe, dies alles als ein umfassendes Kompendium zusammengefaßt und per CD-ROM leicht erschließbar gemacht, müßte ein lohnendes Ziel aller beteiligten Kräfte sein, der Bibliotheken und Archive, der Forschungsinstitute und der Verlage, je nach deren Zielsetzung. Das geht nicht ohne zielgerichtete Voraussetzungen.
So brauchen wir:
1. die Unterstützung und Förderung solcher großen Forschungsprojekte an Bibliotheken und Forschungsinstituten durch entsprechende Fördermaßnahmen durch Staat und Wirtschaft. Ein Verlag könnte die Finanzen hierfür allein nicht erwirtschaften.
2. Eine an den Bedürfnissen der Musikwelt orientierte, praxisnahe Ausbildung der jungen Wissenschaftler, die auch heute noch rein auf akademische Bedürfnisse hin ausgebildet werden, und die sich nach ihrer Ausbildung den eher zufälligen Möglichkeiten einer beruflichen Laufbahn überlassen sehen.
3. Eine engere Verbindung von Bibliotheken, Verlagen und Forschungsinstituten als Planer, Vermittler und Diskussionspartner, vor allem wenn es darum geht, Wissenschaftsfragen und Forschungsvorhaben in die Praxis umzusetzen. Denn ohne Bibliotheken und Archive gäbe es keine Forschung, ohne Verlage keine Umsetzung für die Praxis, ohne den Praxisbezug bliebe alles Bemühen nur Selbstzweck. Das dürfte nicht der letzte Sinn der Sache sein. Aber in ihrer gegenseitigen Durchdringung kann für alle Seiten ein Optimum erreicht werden.
Martin Bente