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nmzMedia zeichnete das Gespräch im Foyer der Komischen Oper auf. Das Video finden Sie unter: www.nmzmedia.de
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Wegkommen von der Best-Practice-Rhetorik

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Mitglieder des Rats für kulturelle Bildung im Gespräch über Musikvermittlung, Diversität und Demokratiestärkung
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Die Bedeutung kultureller Bildung für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse sowie die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen ist heute von politischer, gesellschaftlicher als auch schulischer Seite anerkannt. Kulturelle Bildung schafft neue Lernkulturen innerhalb und außerhalb der Schulen und Universitäten. Im Jahr 2013 wurde die Empfehlung zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung der Kultusminis­terkonferenz von 2007 überarbeitet und ergänzt.

Weitere Akteure sind inzwischen auf den Plan getreten: Stiftungen wie die Bertelsmann Stiftung, Deutsche Bank Stiftung, Karl Schlecht Stiftung, PwC-Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stiftung Mercator und Stiftung Nantesbuch, die sich im Verein „Rat für Kulturelle Bildung e. V.“ mit Geschäftsstelle in Essen zusammengeschlossen und 2012 einen unabhängigen Expertenrat mit derzeit 12 Mitgliedern berufen haben.

Aufgabe des Beratungsgremiums ist es, sich umfassend mit der Lage und der Qualität Kultureller Bildung in Deutschland zu befassen und Impulse für die Praxis, die Politik und die Wissenschaft, zum Beispiel durch Expertisen und Empfehlungen, zu geben. nmz-Herausgeberin Barbara Haack und nmz-Chefredakteur Andreas Kolb, trafen sich mit drei Mitgliedern des Rates für Kulturelle Bildung zu einem Roundtable-Gespräch „Kulturelle Bildung und Musikvermittlung“ im Foyer der Komischen Oper Berlin.

Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss (Foto 3.v.li.) ist Direktorin der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel und Professorin für Kulturelle Bildung an der Universität Hildesheim sowie Gründungsmitglieds des Rates für Kulturelle Bildung. Die beiden anderen Gäste sind Ende 2017 zu Mitgliedern des unabhängigen Expertenrats ernannt worden und kommen aus dem Bereich der musikalischen Bildung: Lydia Grün (Foto 2.v.li.) ist Leiterin des Masterstudiengangs Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Detmold sowie Geschäftsführerin des netzwerk junge ohren e.V., Mustafa Akça (Foto 2.v.re.) ist Leiter des interkulturellen Projekts „Selam Opera!“ an der Komischen Oper Berlin und Mitarbeiter der Dramaturgie.

neue musikzeitung: Frau Reinwand-Weiss: Wie wird man Ratsmitglied?

Reinwand-Weiss: Ratsmitglied wird man, indem man berufen wird. Die Grundidee war, Experten aus unterschiedlichen Bereichen der kulturellen Bildung oder angrenzender Bereiche kultureller Bildung zusammenzufügen, so dass ein interessanter Diskurs entsteht.

nmz: Wo liegt der Benefit für Sie?

Reinwand-Weiss: Den Rat sehe ich als eine Institution, um wichtige Themen für das Feld kultureller Bildung anzustoßen. Für mich persönlich ist es interessant, es hier mit spannenden Menschen zu tun zu haben und selber viel mehr über andere Bereiche des Feldes zu lernen.

nmz: Frau Grün, Sie sind neu im Gremium. Welche Erwartungen verknüpfen Sie mit Ihrer Mitgliedschaft im Rat für Kulturelle Bildung?

Grün: Wenn wir uns in den Ratssitzungen treffen, empfinde ich das stets als eine Art Druckbetankung mit neuen Impulsen aus den unterschiedlichsten Sparten und Genres. Das Feld der kulturellen Bildung ist ein relativ junges Feld, das stark durch Erfahrungswissen, durch Ausprobieren, Trial and Error funktioniert. Wir sind heute an einem Punkt, an dem wir eine Reflexion über bestimmte Aspekte brauchen, gerade wenn wir über eine höhere Professionalisierung im Feld sprechen.

Begegnung per „Operntaxi“

nmz: Herr Akça, was erhoffen Sie sich?

Akça: Ich sehe das von der praktischen Seite und hoffe, dass ich kulturelle Bildung durch meine Ideen noch greifbarer machen kann. Immer in der Hoffnung, dass es  vielleicht eine Begegnung gibt zwischen der Stadtgesellschaft und der kulturellen Bildung.

nmz: Herr Akça, Sie sind hier an der Komischen Oper, einem Institut der Hochkultur. Eines Ihrer wichtigen Projekte heißt „Selam Opera!“, das ist türkisch und heißt „Hallo Oper!“. Wer sagt da Hallo zu wem?

Akça: Wir zu den Menschen draußen und die Menschen auch zu uns. Es geht darum, dass man die vielfältige Stadt Berlin in unserem Zuschauerraum sieht. Da ist es wichtig, rauszugehen und Hallo zu sagen mit verschiedenen Projektbausteinen, mit Ideen, um die so genannte Hochkultur respektvoll respektlos zu machen.

nmz: Ist denn diese Hochkultur geeignet, um Menschen ins Haus zu holen, die mit kultureller Bildung vielleicht noch gar nicht so richtig vertraut sind?

Akça: Sie ist genauso geeignet, wie Fußball geeignet ist, um Menschen zur Diskussion anzuregen, sie einzuladen, ein Teil vom großen Ganzen zu sein. Ein Beispiel ist unser Operndolmus. Ein Dolmus ist der türkische Begriff für Sammeltaxi. Mit diesem Operntaxi fahren wir in Stadtteile und präsentieren das, was wir auf der großen Bühne spielen, mit den leibhaftigen Sängerinnen und Sängern und Musikern. Wir schaffen Anlässe für Begegnung zwischen der Stadtgesellschaft und uns. Das wichtigste ist für uns auch nicht, dass wir etwas an die Menschen bringen, sondern dass sie uns Impulse geben; diese Impulse tragen wir an unsere Leitung heran, und wenn wir dann Glück haben, kommen sie als große Projekte auf der Bühne zurück.

nmz: Und das funktioniert, diese Art der Begegnung und des Austausches?

Akça: Ja. Ganz aktuelles Beispiel ist unsere Kinderoper „Die Bremer Stadtmusikanten“. Unsere Kinderopern sind etwas Besonderes, weil sie auf der großen Bühne stattfinden. Nach einer Aufführung kam die Idee von einer Mutter, die gesagt hat: „Das ist auch in der Türkei sehr bekannt, dieses Märchen.“ Es ist ein deutsch-türkisches Stück geworden, es wird deutsch und türkisch gesungen, gesprochen und im Orchestergraben sitzen die uns im Wes­ten bekannten Musikinstrumente mit der Langhalslaute zusammen.

nmz: Frau Grün, Sie repräsentieren und knüpfen seit vielen Jahren ein Netzwerk der Musikvermittlung, national und international. Wie hat sich das Umfeld entwickelt in dieser Zeit?

Grün: Wir stellen fest, dass es einen Aufwuchs der Fördermittel gibt. Es passiert etwas in der Szene, wenn ein Ministerium wie das BMBF große Millionenbeträge in Deutschland ausschüttet. Darauf reagierend beziehungsweise im Wechselspiel gibt es mittlerweile fast kein Haus, keine Bühne, kein Orchester, keinen Klangkörper mehr, der sich dem Thema kulturelle Bildung oder Musikvermittlung verschließt. Bei der BKM-Förderinitiative „Exzellente Orchesterlandschaft“, um ein Beispiel zu nennen, ist das ein zentrales Förderkriterium. Wir müssen jetzt darüber sprechen, mit welchen Inhalten und mit welcher Personalstruktur da gearbeitet wird. Jetzt muss die Szene und auch die Förderlandschaft lernen, damit umzugehen, erwachsen zu sein. Da gibt es andere Erwartungshaltungen, die in eine Kontinuität hineingehen. Dafür brauchen wir Handwerkszeug und die Reflektion.

Berufsziel: Kulturvermittlung

nmz: Frau Reinwand-Weiss, Sie sind Professorin für Kulturelle Bildung an der Universität Hildesheim sowie Direktorin der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel. Können Sie über die Musikvermittlung hinaus zum Thema kulturelle Bildung und Professionalisierung etwas sagen?

Reinwand-Weiss: Wir haben vor einigen Jahren in Hildesheim den Master Kulturvermittlung gegründet und wir erfahren großen Zuspruch von Studierenden, die dieses Feld als zukünftiges Berufsfeld für sich entdecken. Wir haben 2010 an der Uni außerdem ein „Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung“ gegründet, weil es einfach wenig Forschung in diesem Bereich gibt, weil es kaum Lehrstühle gibt. Es war der Versuch, auch aus anderen Disziplinen Forscherinnen und Forscher zusammenzubringen und zu sagen, hier ist ein Praxisfeld, das Grundlagenforschung braucht. Wir führen das Netzwerk jetzt mittlerweile im 8. Jahr und wir haben stetigen Zulauf aus den unterschiedlichsten Disziplinen. Alle tragen dazu bei, das Praxisfeld ein reflektierteres werden zu lassen und auch im akademischen Feld kulturelle Bildung als Disziplin – ästhetische Bildung nennen wir es da – stärker auszubauen.

nmz: Sie stehen auch für den Bereich der Weiterbildung. Was für ein Themenfeld tut sich da auf?

Reinwand-Weiss: In Wolfenbüttel arbeiten wir in sechs Sparten. Eine davon ist die Musik. Dort haben wir den Schwerpunkt im Bereich Chor. Wir bieten Menschen, die aus unterschiedlichen Feldern kommen und sich vielleicht erst später für eine künstlerische Laufbahn entscheiden, oder auch internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die neu zu uns ins Land kommen und vielleicht bestimmte Nachweise nicht haben, eine Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln und Qualifizierungen nachzuholen, die im deutschen Markt leider immer noch sehr gefragt sind. In der Erwachsenenbildung wird das Feld immer diversifizierter, das heißt, es gibt viele Verbände und andere Akteure, die Kurse anbieten. Leider gibt es wenig gültige Zertifikate oder Qualitätsrichtlinien, also müssen wir uns untereinander immer wieder über die Qualität der Weiterbildung austauschen. Wir sehen auch, dass es häufig für die Personen ein Problem ist, die Kurse zu finanzieren.

Grün: Es gibt anscheinend an einem bestimmten Punkt der Künstler- oder Musikerbiografie eine Art Midlife-Crisis. Dass man irgendwann mit Mitte 40 erkennt: Der Pultnachbar wird nicht mehr wechseln bis zu meiner Rente, was mache ich jetzt, woher bekomme ich künstlerische Impulse, wie kann ich eventuell auch neue musikalische Klangwelten entdecken? Da ist die kulturelle Bildung ein neues Feld, auch für professionelle Künstlerinnen und Künstler. In diesem Bruch, wo man so viele Fragen an sich selbst auch als Künstlerpersönlichkeit stellt, kommt die Weiterbildung ins Spiel und die kulturelle Bildung als ein Feld, neue Formate auszuprobieren.

Akça: Das ist auch bei uns ein Riesenthema. Menschen im Orchestergraben, die auf das Rentenalter zugehen, aber auch Sängerinnen und Sänger kommen schon auf das Projekt „Selam Opera!“ zu und fragen „Was kann man denn noch machen?“ So ein transportables, bewegliches Projekt für die Zeit im Rentenalter: Das kribbelt und juckt vielen unter den Fingernägeln.

nmz: Wenn jeder, der eine Midlife-Crisis hat oder frustriert ist von seinem künstlerischen Dasein, sagt, „Ich will auch mal ein bisschen Musikvermittlung machen, da besuch‘ ich einen Wochenendkurs und bin dann ein Musikvermittler“  –  das scheint mir eine Gratwanderung zwischen Professionalisierung und Überforderung zu sein …

Lydia Grün: Für mich ist die Frage, an welcher Stelle ein Künstler oder eine Künstlerin bereit ist, sich diesen neuen Formaten zu öffnen. Das kann am Anfang einer Berufsbiografie sein, wir bekommen jetzt die Absolventinnen und Absolventen, die in ihrer eigenen Schulzeit Musikvermittlungsprojekte erlebt haben und dadurch ein künstlerisches Erweckungserlebnis hatten. Zum anderen kann das aus so einer Situation der Midlife-Crisis oder des Hinterfragens kommen. Es bringt in der kulturellen Bildung nichts, wenn ich par „ordre du mufti“ sage, das gesamte Orchester macht jetzt ein Kulturelle-Bildung-Projekt. An der Stelle werden alle Seiten traumatisiert. Wir reden über Qualität in der kulturellen Bildung. Das heißt, ich brauche auf allen Seiten offene Ohren.

Die Persönlichkeit zählt

nmz: Zurück zum Thema „Weiterbildung – Ausbildung“. Würden Sie sagen, dass man alles lernen kann, um ein guter Musikvermittler oder -pädagoge zu werden? Oder braucht es eine Grundbegabung?

Reinwand-Weiss: Das Feld der Musikvermittlung ist ja breit. Die Frage ist, in welchen Bereichen man tätig werden will, und natürlich braucht ein guter Vermittler auch die Persönlichkeit eines Vermittlers. Etwa das Interesse am Gegenüber, eine gehörige Portion Humor, ein Einstellen auf die jeweiligen Biografie des anderen. Da gehören viel sogenannte Soft Skills dazu, die man schon ein Stück weit erlernen kann, aber für die man auch offen sein muss. Die Kultur zum Beispiel, die von Menschen, die neu bei uns ankommen, mitgebracht wird, gilt häufig erstmal nicht als „hochwertige“ Kultur und auch nicht als Kultur, die es zu vermitteln gilt. Es wurde in Niedersachsen nach der Flüchtlingswelle das „Welcome Board“ gegründet im Musikland, dort werden geflüchtete und einheimische Künstlerinnen und Künstler eingeladen, voneinander zu lernen. Die Musiker gehen in Klassenzimmer mit ihren Instrumenten, die hier weitestgehend noch unbekannt sind und versuchen, eine neue Musikkultur ins Land zu bringen. Wenn Sie aber einen Kurator fragen oder einen Intendanten in einem großen Haus, dann heißt es: „Natürlich spiele ich meinen Beethoven. Was soll das Neue, da kommt niemand“. Ich glaube hier stehen wir vor einem grundlegenden Problem, dass sich in den großen Häusern häufig nicht die Realität unseres Kulturlebens in Deutschland abbildet.

nmz: Im Vorfeld des Interviews haben wir über die Frage gesprochen, ob durch streng werkorientierte, werkgetreue Vermittlung der perzeptiven wie performierenden Hochkultur mindestens ebenso viel Nachwuchs verloren geht wie durch oberflächliche Berieselung.

Akça: Natürlich geht einem das Publikum verloren oder der Nachwuchs, wenn man zu oberflächlich vermittelt, aber auch, wenn man zu konventionell, zu starr ist in der Vermittlung. Da kann ich die These nur unterstützen. Was macht man an einem Opernhaus mit der Vermittlung? Man muss ja nicht die Seele oder den Sinn eines Stückes verkaufen. Man kann es auch moderner, cooler, hipper machen. Aber das muss wirklich von der Leitung gewollt werden, diese eingetretenen Pfade zu verlassen. Das muss von der Intendanz gewollt sein, das will Barrie Kosky an der Komischen Oper.

nmz: Frau Grün, um solche Ideen umsetzen können, braucht man auch Macht innerhalb einer Struktur.

Grün: Klar, wenn man etwas ändern will, braucht man immer Macht. Die These ist, dass es einen Transfereffekt gibt von der Vermittlung in den sogenannten normalen Betrieb. Dieses Denken muss sich ändern und die Komische Oper ist eines der leuchtenden Beispiele, wie sowas integral von der Spitze aus gedacht wird. Nichtsdestotrotz braucht man dann auch in den einzelnen Abteilungen eine starke Freie Szene, die zuarbeitet. Wir haben an den Häusern oft Vermittler sitzen, die gewissermaßen die Vermittlung organisieren, sich Formate ausdenken, etwa ein Kinderkonzert, oder sich anhand des meistens leider schon bestehenden Spielplans überlegen, welches Werk welches Format noch vertragen kann. Wenn man das ändern möchte, muss man integral denken. Für mich ist eigentlich die Optimalvariante, dass in der Spielplan-Planung die Vermittlungsformate direkt mitgedacht werden. Und zwar nicht als Solitär, sondern im Leitungsteam. Dann bekommt das auch eine Qualität für die gesamte Programmatik eines Hauses. Und da sind wir noch nicht.

Reinwand-Weiss: Man könnte jetzt den Slogan formulieren: Vermittler in die Leitungspositionen. Häufig wird das missverstanden mit einem künstlerischen Qualitätsverlust – als ob Vermittler keine Ahnung von Kunst hätten. Das ist ja absurd, natürlich braucht ein Vermittler, um gute Vermittlung zu machen, enorm viel Ahnung von Kunst und von Werktreue. Aber die Vermittlungsfähigkeiten fehlen häufig in den Leitungen.

nmz: Es gibt dann aber immer noch viele Intendanten, die sagen: Wie kriege ich denn mit einer türkischen Oper oder einem Stadtteil-Projekt mein Haus voll? Die Leute wollen Figaro und Fidelio sehen und keine türkische Oper.

Grün: Sagen das denn die Leute, dass sie unbedingt Fidelio gucken wollen?

nmz: Ich glaube, dass die Intendanten das sagen. Die Frage ist, wie man eine Veränderung herstellt in der Gesellschaft, in den Besuchergruppen. Das ist ja auch Aufgabe des Theaters, eine Art von Marketing zu betreiben.

Akça: Das Marketing ist wichtig. Unser Projekt ist zum Beispiel ein Querschnittsprojekt, angesiedelt in der Dramaturgie. Es ist wichtig, dass es im ganzen Haus gelebt wird und nicht nur in der Dramaturgie oder in der Marketingabteilung. Man sollte rausgehen in die Stadt. Es ist wichtig, dass man die Gesellschaft, die Stadt, für die man inszeniert, für die man kulturelle Bildung betreibt, kennt.

Reinwand-Weiss: Ich glaube, man braucht auch viel mehr Mut auf allen Ebenen, Dinge auszuprobieren und Dinge auszutesten. Nicht nur in den Häusern, sondern auch bei den Förderern und vor allem auch bei den staatlichen Förderern. Ich stehe manchmal fassungslos davor, wie ängstlich die Leute im Kulturbereich sind. Im schlimmsten Fall verlieren wir ein bisschen oder haben das Geld falsch investiert. Aber dann versuchen wir, daraus zu lernen. In den letzten Jahren hat sich so eine Best Practice-Rhetorik entwickelt. Man präsentiert immer nur das, was angeblich gut gelaufen ist und verschweigt die negativen Punkte. Es wäre wichtig, auch schiefgelaufene Dinge auf den Punkt zu bringen.

Grün: Die Frage ist die nach dem Auftrag. Ist es mein Auftrag als Theater oder als Orchester, mein Haus vollzukriegen? Wenn ja, mit wem? Wer geht dahin? Die Frage ist dann, wie kann ich Stadtgesellschaft hier abbilden für diejenigen, die das hier alles finanzieren? Wir wollen dieses Diskurspotenzial, von dem wir glauben, dass es in den kulturellen Formen, die wir hier vertreten, innewohnt, nach außen tragen und noch stärker zur Debatte stellen.

nmz: Man könnte sagen: Musikvermittlung, kulturelle Bildung, Teilhabe als ein Teil der Demokratie, als Demokratiestärkung oder als Debattenort.

Grün: Definitiv. Das Thema Demokratiestärkung, gerade auch nach dem letzten Jahr und den entsprechenden Wahlergebnissen sowohl in Europa als auch überm Teich spielt in unserem Diskurs eine riesige Rolle. Wie reagieren wir darauf, welche Aufgaben können wir hier übernehmen, um über einen musikalischen Prozess neue Formen oder Auseinandersetzungen des Zusammenlebens zu lernen oder miteinander auszutesten. Da ist viel Potenzial in der Musikvermittlung oder im Prozess des Miteinander-Musikmachens und Musikerlebens. In dem Sinne ist das Thema Demokratiestärkung für die Musikvermittlung gerade in diesem Jahr ein ganz großes Thema. Nicht jeder oder jede ist für eine bunte, diverse Gesellschaft, auch in unserer Szene der klassischen Musik nicht, da gibt es genau dieselbe Meinungsbildung wie sie auch in der Gesamtgesellschaft zu finden sind. Wir haben gerade in der klassischen Musikszene die Aufgabe, einen stärkeren Diskurs zu führen. Da haben uns andere Sparten wie das Schauspiel definitiv etwas voraus.

Kein Ersatz für Sozialpolitik

nmz: Haben die Musiker da Nachholbedarf, Frau Reinwand-Weiss?

Reinwand-Weiss: Ich würde das unterstreichen. Vermittlung und kulturelle Bildung können sehr viel gesamtgesellschaftlich und im Individuum bewirken. Allerdings soll sie nicht aus diesen Gründen gefördert werden. Kulturelle Bildung ist kein Ersatz für eine verkorkste Sozialpolitik. Natürlich muss man sich als Haus- oder auch als einzelner Vermittler genau diese Fragen stellen: Was ist meine Daseinsberechtigung und wozu kann ich Beiträge leisten? Da ist Demokratie ein Thema. Bei uns im Haus ist aktuell auch Diversität ein großes Thema und natürlich die Frage der ländlichen Räume, das Thema „Kultur für alle“. Das ist eine Utopie, die in den 1970er-Jahren formuliert wurde, die aber bis heute Gültigkeit hat und immer noch ein fernes Ziel ist.

Grün: Ich möchte den Eindruck vermeiden, dass wir sowas wie Missionare sind, Menschenfischer. Natürlich hat jeder Vermittler eine hohe intrinsische Motivation. Aber dennoch gibt es einen Punkt, der darüber hinausgeht. Beide Seiten lernen hier. Ich komme nochmal auf das Berufsbild des klassischen Musikers zurück, der seit seinem vierten Lebensjahr darauf trainiert ist, perfekt zu sein und zu üben und ein Klangideal auszubilden und dem zu genügen oder eben nicht zu genügen. Das ist dann richtig oder falsch. Und genau in den Diskursen, in denen wir uns bewegen, auch als Künstlerpersönlichkeiten, gibt es kein richtig und falsch. Es gibt eine Aushandlung, es gibt verschiedene Positionen und es gibt auch etwas „Unperfektes“ in diesen Prozessen. Wir sind eigentlich in so einer Art Transformationsphase.

Akça: Ein Beispiel: Unser Tenor, der mit uns die Gastarbeiterroute abgefahren ist, über München, Wien, Belgrad, Sofia bis nach Istanbul, ist zurückgekommen und hat weitere Leute „infiziert“ und damit noch mehr Sängerinnen und Sänger angesteckt mit dem Rausfahren und Machen.Ich liebe diese Art der Vermittlung, denn sie vermittelt ohne zu vermitteln und diese Formate sind mir die Liebsten.

nmz: Wir reden fast nur über das Thema Vermittlung. Früher war musikalische Bildung Musikunterricht und Musikschulunterricht. Würden Sie sagen, dass sich der Stellenwert in den letzten Jahren verlagert hat?

Reinwand-Weiss: Im Rat für kulturelle Bildung ist Schule ein Schwerpunkt. Der war von Anfang an da und wir haben vor einiger Zeit verschiedene Studien in Auftrag gegeben. Eine Studie hat Kinder und Jugendliche befragt, unter anderem zu den ästhetischen Schulfächern, und die Ergebnisse waren erschreckend, weil  eben immer noch, oder wieder, sehr viel Musikunterricht oder Kunstunterricht ausfällt oder fachfremd unterrichtet wird. Insofern kann man sagen, dass auch im Zuge von PISA die ästhetischen Fächer an den Schulen eher gelitten haben, als dass sie eine Stärkung erfahren haben. Es gibt immer Bewegungen und Gegenbewegungen und es gibt in Deutschland schon die Bewegung der kulturellen Schulentwicklung, das heißt Schulen, die sich dezidiert das Profil Ästhetik geben und dementsprechend  nicht nur bildende Kunst oder Musik­unterricht oder darstellendes Spiel anbieten, sondern tatsächlich das Arbeiten in der kulturellen Bildung als ein Arbeitsprinzip für alle möglichen Fächer festlegen. Da tut man sich aber sehr schwer. Am Anfang gab es so eine Zeit der „Feindschaft“ zwischen außerschulischen Akteuren und Schule, in der die außerschulischen Akteure gesagt haben: „Die Ganztagsschulen nehmen uns die Schüler weg, wir haben im Nachmittagsbereich überhaupt keine Kinder mehr in den Musikschulen.“ Und umgekehrt. Mittlerweile setzt sich aber schon das Bild durch, dass die außerschulischen Partner sehr wohl zur Stärkung der Schulen beitragen können und Schulen sich eigentlich viel mehr als Teil einer kulturellen Bildungslandschaft oder einer regionalen, kommunalen Bildungslandschaft verstehen müssen und mit außerschulischen Akteuren agieren, weil sie sonst vollkommen am Bedarf der Realität „vorbeischulen“.

nmz: Die Gefahr ist allerdings groß angesichts der Tatsache, dass die Gesellschaft insgesamt immer mehr der Ökonomisierung unterliegt. Was tut denn der Rat dagegen?

Reinwand-Weiss: Wir zeigen durch die Studien erstmal den Ist-Stand auf. Wir müssen nun eine gesamte politische Entwicklung befördern, die die kulturelle Bildung nicht nur als nettes Add-On, als Petersilie oben drauf sieht, sondern als einen wesentlichen Motor für das, was man als gesellschaftliche Entwicklung und auch Ökonomisierung sieht.

Neue Player im Markt

nmz: Würden Sie sagen, dass private Stiftungen jetzt Aufgaben übernehmen, die eigentlich doch öffentliche Aufgaben wären?

Grün: Diese Interpretation finde ich irgendwie 80er-Jahre. So war die Welt noch, als die Mauer stand. Aber wir leben jetzt in einer Welt, wo wir uns in einem globalen Kontext bewegen und das heißt auch, dass wir eben nicht nur den Staat haben oder die öffentliche Hand, sondern dass wir viele andere Player im Markt oder im Feld haben.

nmz: … wie die Zivilgesellschaft, die Verbände. Aber der Einfluss der Verbände geht ja zurück angesichts solcher Aktivitäten von Stiftungen, die einfach viel mehr Geld haben.

Grün: Die Frage ist, wie die Verbände mit den Stiftungen auch in Zukunft zusammenarbeiten könnten. Welche gemeinnützigen Aufgaben übernimmt eine Stiftung mit dem Hintergrund ihres wirtschaftlichen Akteurs, der meistens im Portfolio steckt? Aber das ist eine Stimme und ersetzt für mich auf keinen Fall einen Handlungsbedarf der öffentlichen Hand. Ich sage aber auch ganz offen: Konkurrenz belebt das Geschäft. Wenn die Stiftungen mit so einem Rat für kulturelle Bildung losgehen, haben sie eventuell erkannt, dass eine gewisse Dynamik dem Feld gut tun würde.

Die Frage ist, wie die verschiedenen Seiten, sowohl die öffentliche Hand als auch das Stiftungswesen und die gesamte Zivilgesellschaft zueinanderkommen und das Feld vorantreiben. Von diesem Denken in einzelnen Säulen, die in sich stimmig funktionieren, sprechen wir schon ganz lange nicht mehr. Wir sehen eigentlich nur, dass die öffentliche Hand das nicht mehr abbildet, auch keinen Diskursrahmen bildet. Das netzwerk junge ohren ist auch kein Verband, sondern ein flexibles hybrides Etwas, das aber die Gemengelage in der Szene abbildet, die sich immer wieder verändert. Wir können nicht mehr von stabilen Faktoren ausgehen wie ehemals. Der Rat für kulturelle Bildung kann in diese Lücke springen oder einer der wesentlichen Akteure sein.

Reinwand-Weiss: Das kann nur passieren in diesem Dreieck Staat-Markt-Zivilgesellschaft. Ich beobachte im Moment eher verstärkt, dass staatliche Organe zunehmend versuchen, inhaltlich zu steuern. Da überschätzen sie oftmals ihre eigenen Kompetenzen. Sie verlassen sich zu wenig auf die Kompetenzen, die eigentlich in der Zivilgesellschaft erarbeitet wurden, wie beispielsweise in den Verbänden. Wir sehen das im Projekt „Kultur macht stark“, dass nicht nur formale Vorgaben gemacht werden, sondern dass gerade dadurch auch eine inhaltliche Steuerung enthalten ist. Ich sehe es auch in vielen anderen Projekten, die wir durchführen. Der Gedanke der Projektförderung ist eigentlich ein Vertrauensentzug. Zu sagen: „Ich gebe dir Geld, aber ich gebe dir Geld nur für ein Projekt, das du mir vorher detailliert beschrieben hast – am besten schon beschrieben hast, was dabei hinten rauskommt. Und wenn du in dem Projekt feststellst, du brauchst vielleicht Geld für irgendwelche anderen Maßnahmen, dann musst du einen Antrag stellen und dann werden wir erstmal prüfen, ob wir dir das Geld dafür geben.“ Es ist nicht der Vertrauensvorschuss da, zu sagen: „Wir geben mehr in institutionelle Förderung und schauen, dass wir durch andere Anreizsysteme bestimmte Entwicklungen befördern.“ Diesen starken Eingriff staatlicher Stellen in die Inhalte finde ich wirklich besorgniserregend.

Thema Geld

nmz: Jetzt sind wir schon beim Thema Geld. Die übergeordnete Frage ist: Gibt es zu wenig oder wird es falsch ausgegeben?

Grün: Klar gibt es zu wenig. Wir reden hier über ein prekäres Arbeitsfeld. Wir sehen, dass Menschen, die in der kulturellen Bildung unterwegs sind, sich ganz am Ende der Einkommensleiter und in unsicheren – also temporären – Arbeitsverhältnissen bewegen. Wir sehen, dass Folgefinanzierungen nicht geklärt sind und dass man sich aus den unterschiedlichsten Tätigkeiten im Sinne einer Patchwork-Biografie oder über einen liquiden Lebenspartner oder Lebenspartnerin refinanziert. Und ein zweiter Punkt, der mir wichtig ist: Wer macht denn die Kulturelle Bildung? In der Regel sind das junge Frauen. Und bei ihnen steht irgendwann das Thema Familienplanung auf der Tagesordnung. Damit stellt sich dann auch die Frage des Wissenstransfers. Ich baue Wissen auf, trage es in mir oder an eine andere Stelle und damit verliert dann auch die Institution. Und das hängt auch mit der Höhe der Summe des Geldes zusammen, die im Feld insgesamt vorhanden ist.

Reinwand-Weiss: Es ist zu wenig Geld im (Weiterbildungs-)system. Die Bundesakademie wird staatlich unterstützt, dementsprechend können wir die Kurse im Vergleich zu privaten Anbietern sehr günstig anbieten. Nichtsdestotrotz sind gerade Kursreihen oft für unsere Akteure noch zu teuer. Arbeitgeber übernehmen kaum mehr Anteile an Fort- und Weiterbildungen. Und die Zeit wird knapper. Wenn ich in Projekten bin, habe ich keine Zeit, mich drei Tage in der Woche rauszuziehen und noch eine Fort- und Weiterbildung zu machen. Zum Thema Geld noch ein Nachsatz: In Deutschland gibt es nicht zu wenig Geld. Deutschland geht es extrem gut im Vergleich zu anderen Ländern und trotzdem geben wir immer noch unterdurchschnittlich viel Geld für Bildung aus. Das Geld ist da, die Frage ist einfach nur, wie wird es investiert und wie wird es verteilt?

nmz: An der Komischen Oper gibt es, vermute ich, keine prekären Arbeitsverhältnisse, auch wenn die Leute vielleicht nicht besonders viel verdienen. Wie ist denn hier der Stellenwert, wenn man über Geld in Ihrem Bereich der Musikvermittlung redet?

Akça: Unser Projekt wird kofinanziert von Stiftungen. – Mehr Geld wäre auch für unser Projekt schön, also für die interkulturelle Arbeit der Komischen Oper Berlin. Für die kulturelle Bildung insgesamt kann es nicht zu viel Geld geben.

nmz: Sie sind alle mit unterschiedlichen Erfahrungen Mitglieder des Rates, was sind Ihre Schwerpunktprojekte für die zukünftige Arbeit im Rat für Kulturelle Bildung?

Akça: Meinen Schwerpunkt sehe ich darin, praktische Impulse zu geben, wie man mit dem Rat vielleicht noch mehr an die Gesellschaft herantritt und die Arbeit des Rates noch praxis­çorentierter gestaltet.

Grün: Für mich liegt eine der Herausforderungen in der Frage, wie man die Erkenntnisse, die durch Studien generiert werden, in Förderpraxis umsetzen kann, für die Szene und im Dialog mit ihr. Der zweite Punkt ist der Dialog zwischen den außerschulischen Akteuren und dem schulischen System. Und auch der zwischen Praxis und dem universitären Umfeld: Themen, die angegangen werden müssen.

Reinwand-Weiss: Schulische Akteure und außerschulische Akteure gehören mehr denn je zusammen. Wir müssen wirklich aufpassen, dass wir in Deutschland nicht zu sehr dem MINT-Paradigma verfallen und nur noch meinen, alles was MINT ist, wird sich später in Wirtschaftsleistungen und internationalem Wettbewerb auszahlen. Wir sollten die ästhetischen Fächer nicht vergessen.

  • Das Gespräch führten Barbara Haack und Andreas Kolb

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