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Die Konstruktionszeichnungen im Rucksack

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Seiler Klaviere seit vier Generationen: Porträt eines Familienunternehmens
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Seit 1961 zählt das malerische Städtchen Kitzingen in Unterfranken zu den Hochburgen des deutschen Klavierbaus. Hier fand nach langem Suchen Steffen Seiler und damit die vierte Generation des 1849 im schlesischen Liegnitz begründeten Familienbetriebs Eduard Seiler Pianofortefabrik ein neues Zuhause. Eduard Seiler hatte bei dem Klavierbauer Karl Hengstel sein Handwerk gelernt; 1846 machte er sich selbständig und bereits drei Jahre später baute er eigenhändig das erste Seiler-Klavier. Schrittweise beginnt das Geschäft zu florieren, nimmt die Zahl der Gehilfen zu, bereits 1872 kommt das 2.000. Instrument auf den Markt, und auch gewichtige internationale Auszeichnungen, darunter eine Goldmedaille in Moskau, bleiben nicht aus. Wenige Jahre nach dem Tod des Firmenbegründers übernimmt 1879 dessen Sohn Johannes Seiler die Leitung der Firma. Mit ihm beginnt das für den spezifischen Seiler-Klang bis heute anhaltende innovative Gespür. Die Umsatzentwicklung spricht ihre eigene Sprache: 1898 verläßt das 25.000. Instrument die längst erheblich erweiterten Fabrikanlagen. Inzwischen werden Seiler-Flügel hoffähig; bei deutschem, italienischem und russischem Hochadel ist Seiler als Hoflieferant akkreditiert. Eigene Vertriebsfilialen selbst in London garantieren einen wachsenden Absatz. Mittlerweile heiratet der bei Seiler in die Lehre gegangene Anton Dütz, der Sohn des gleichnamigen Warschauer Pianofortefabrikanten, in die Familie ein; 1923 übernimmt er 34jährig die Gesamtleitung. Unter ihm wächst Seiler zur größten Pianofortefabrik Ostdeutschlands; zahlreiche Auszeichnungen selbst in Japan eröffnen einen weltweiten Markt. Auch während der Wirtschaftskrise gelingt es ihm, die Produktion nie zu unterbrechen. Doch der zweite Weltkrieg macht alle seine Bemühungen zunichte. Sein Sohn Steffen Seiler setzt es sich mit dem Ende des Krieges in den Kopf, die Firma im Westen neu aufzubauen. Im Rucksack schleppt er zusammen mit einigen Konstruktionszeichnungen die in Thüringen lagernden Gußplattenmodelle über die Zonengrenze. 1950 findet er in Kopenhagen bei den Gebrüdern Jorgensen eine Anstellung. Dort baut er unter Lizenz die ersten Seiler-Nachkriegsklaviere. 1956 erfolgt die Neugründung einer deutschen Firma Seiler in Nürnberg. Die geeigneten Voraussetzungen für den eigentlichen Neubeginn findet er 1961 in einer damaligen Möbelschreinerei in Kitzingen. Innovative Kreativität blieb Steffen Seilers Zielsetzung. Wie kaum ein anderer hat er mit zahlreichen Entwicklungen und Patenten zum entscheidenden Fortschritt beigetragen, darunter unter anderem 1983 das SEILER Membrator System zur erhöhten Schwingfähigkeit des Resonanzbodens, 1987 der erste voll modifizierte akustische Flügel „Showmaster“, 1995 der Ton-Volumen-Stabilisator, der eine dauerhaft stabilisierte Tonfülle erzielt oder 1996 der SEILER Elite Trainer, das weltweit einzige vollmodifizierte Übungsinstrument mit kompletter Flügelmechanik und Dämpfung zum lautlosen Üben. Steffen Seiler war es nicht vergönnt, das gegenwärtige 150jährige Jubiläum zu erleben; er starb im vergangenen Jahr. Seitdem leitet seine Frau Ursula Seiler mit Fingerspitzengefühl und einem sicheren internationalen Expansionsbewußtsein die Geschäfte, während sich im Hintergrund seine Tochter, die 25jährige Pianistin Manuela Seiler, darauf vorbereitet, den Familienbetrieb in absehbarer Zeit zu übernehmen. Der gegenwärtige Jahresumsatz beträgt 22 Millionen Mark, bei einer Fertigungskapazität von 2.700 Instrumenten (1998), davon 28 Prozent Flügel und 72 Prozent Klaviere. Der deutsche Marktanteil unter den heimischen Herstellern liegt bei 16 Prozent, der Exportanteil am Gesamtumsatz bei 50 Prozent, vorrangig in Europa, den USA, Japan und Hongkong. Das 175jährige Jubiläum unter dem Motto „Jubiläum der Kreativität“ krönte die Ausrichtung des 1. Internationalen SEILER Klavierwettbewerbs mit seinen beiden Sektionen für die Altersgruppen 17 bis 32 Jahre und 12 bis 16 Jahre. Dieses Geisteskind von Ursula Seiler soll in Zukunft in zweijährigem Turnus wiederholt werden. Da Ursula Seiler anscheinend nicht damit gerechnet hatte, welchen Zuspruch ein solcher Wettbewerb auslösen könnte, war eine Vorrunde gar nicht erst vorgesehen. Dies hatte zur Folge, daß sich die Jury 144 Pianisten aus 36 Ländern und 18 Junioren aus 11 Ländern ausgeliefert sah. Man war gezwungen, die erste Runde auf 15 Minuten zu begrenzen und sich einem viertägigen Marathon auszuliefern, um allen die Möglichkeit zu geben, gehört zu werden. Daß sich anschließend die engere Kandidatenzahl mehr oder weniger mühelos auf 36 reduzieren ließ, ist die Folge eines üblen Mißstandes in der Ausbildung eines mehrheitlich durchaus talentierten Nachwuchses. Anstelle von Musizieren, Klangästhetik, Hören, Atmen, Ehrlichkeit und einer dem Werk unterstellten Ehrfurcht brachen sämtliche Höllenspektakel los. Die Spirale, Pianisten zu Robotern auszubilden, um sie dann erneut als Lehrkräfte auf einen neuen Nachwuchs loszulassen, bestärkte die Befürchtung, daß Interpretations- und Klangästhetik, ja die gesamte europäische Musikkultur, auf dem besten Weg dazu ist, sich selbst auszurotten. Hätte es die Junioren, darunter drei Chinesen (zwei von ihnen direkt aus Peking importiert) und eine Rumänin nicht gegeben, wäre von Musik auf diesem Wettbewerb kaum die Rede gewesen. Der erste Preis wurde zurecht dem 29jährigen Ukrainer Alexander Mikhailuk zugesprochen.

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