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Die Verführungskunst der Natascha Ungeheuer
Die Verführungskunst der Natascha Ungeheuer
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Die Verführungskunst der Natascha Ungeheuer

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Rückblende: Vor 50 Jahren (1971/09)
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Henzes erste musikalische Polit-Show wurde in Rom kreiert. „Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer“: das ist der lange Titel von Hans Werner Henzes jüngstem und bislang revolutionärstem Musikstück […] Es zeigt einen musikalisch radikal gewandelten, keinen typischen Henze mehr. Ihm ist es mit diesem Stück gelungen der bürgerlichen Marktideologie des Personalstils zu entkommen.

Der Text stammt von Gastón Salvatore. Natascha meint eine junge romantische Frau. Und Ungeheuer bezeichnet nicht ein Monströses, sondern dass etwas nicht geheuer ist, hier: die Angst vor revolutionärer Praxis. […] Seine Metaphernsprache reicht von Verrätselungen und Andeutungen an Berliner Demonstrationsschauplätze, an Brecht, Che und Saint-Just bis zu eindeutigen und konkreten Formulierungen. […] Henze deutet durch die Kostümierungen auch der der übrigen beteiligten Musikergruppen an, dass Musikmachen eine Arbeit ist und nicht Dienen wie die Domestikenfräcke der bürgerlichen Konzertpraxis anzeigen.

[…] Auf gefügte Gruppierungen hat Henze zurückgegriffen, um mit deren Vermittlung die schon im „Cimarrón“ eingebrachten individuellen Eigenarten, die persönliche Phantasie der Musiker zur Geltung zu bringen. So enthält das Stück eine große Anzahl von improvisatorischen Freiräumen und greift auch etwa in der Verwendung des Schlagzeugs, in der Notation der Stimme und der Instrumente auf Eigenarten der nachseriellen Avantgarde zurück. Die Gruppen dienen Henze ferner zur Andeutung verschiedener Seelen in Nataschas Brust. […] Dort, wo es noch am meisten nach dem früheren Henze klingt, ist Distanzierung im Spiel, Distanzierung von der eigenen musikalischen Vergangenheit, von der „bewaldeten Sprache“, und von der Rolle, die Henze im traditionellen Musikbetrieb als der erfolgreichste Komponist der Sparte neue Musik gespielt hat. Mit „Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer“ hat Henze ein mehr bürgerlich-intellektuelles Problem der Klassengesellschaft aufgegriffen und sich dabei musikalisch auf die Seite des arbeitenden Bevölkerungsteils gestellt. „Das Glück ist in Europa eine neue Idee“, diesem Satz Salvatores hat Henze versucht, einen musikalischen Sinn zu geben.

Reinhard Oehlschlägel, Neue Musikzeitung, XX. Jg., 1971, Nr. 4 (Aug./Sept.)

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