Im Anfang der Bundesrepublik Deutschland war der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Er wurde installiert als Gegenmaßnahme zu einem staatlich gesteuerten Rundfunksystem wie es ab der Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme durchgesetzt worden war.
Bis in die 80er-Jahre hinein kannte Deutschland auf seinem Gebiet nur derartige Rundfunkanstalten. Was heißt aber öffentlich-rechtlich eigentlich? Die Frage beantwortet stellvertretend die Internetseite des Südwestrundfunks (SWR): „Nicht der Staat, sondern dessen heterogene gesellschaftliche und politische Gruppen nehmen die Aufsichtsfunktion in den Leitungsgremien wahr. Nicht der Staat finanziert die Programme, sondern die Hörer und Zuschauer, die damit sicher stellen, dass nur das gesendet wird, was sie selbst sehen und hören wollen.“ Und das sei gleichzusetzen mit dem „Prinzip Freiheit“.
Diese Information und Deutung scheint jedoch eine ziemlich neue Sichtweise darzustellen. Denn, wie jeder weiß, auch private Rundfunkanstalten werden nicht vom Staat finanziert. Bleibt die Aufsichtsfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch heterogene gesellschaftliche und politische Gruppen. Doch stellt sich die Frage, wer diese Aufsichtsgremien bestellt und inwieweit politische Einflussnahme in sie hineinreicht. Wer sich an manche Bestellung von Intendanten erinnert, wird schnell gewahr, dass auch hier parteipolitische Mächtespiele nicht ausbleiben. Von einer Rundfunkfreiheit im emphatischen Sinne kann da nicht die Rede sein. Die letzte Aussage des SWR, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch Hörer und Zuschauer finanziert wird, soll angeblich sicherstellen, „dass nur das gesendet wird, was sie selbst sehen und hören wollen“. Wie man da den Sprung von der Finanzierung zur Programmgestaltung schaffen will, ist allerdings schleierhaft. Der Hörer bestimmt, was er hören und sehen möchte durch seinen Beitrag, den er an die Gebühreneinzugszentrale entrichtet? Das zumindest ist ein weit verbreitetes Vorurteil.
Mythos Quote
Diese Vorstellung spricht Bände über den gegenwärtigen Zustand der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Mehr oder minder deutlich orientiert sich die Programmgestaltung an durch Meinungsforschungsinstitute erhobenen Quotenermittlungen. Dieses Instrument ist im Kern allerdings ein Bestandteil der Werbewirtschaft und damit für die privaten Rundfunkanstalten wichtig. Nur wer hohe Quoten erzielt, der kann leichter Werbekunden akquirieren; und die privaten Rundfunkanstalten finanzieren sich nicht durch ihre Hörer oder Zuschauer, sondern durch Werbeeinnahmen. Das freilich hindert die öffentlich-rechtlichen Unternehmen nicht daran, sich an diesem Instrument zu orientieren, wenngleich dies nicht ihr Ziel sein darf. Zudem ist die Einschaltquotenfrage auch aus statistischer Sicht nicht hilfreich. Das lässt sich an den „Hörerzahlen“ von NDR Kultur demonstrieren.
In der letzten Media-Analyse zur Quotenermittlung wurden 60.324 Personen in ganz Deutschland befragt. NDR Kultur erreichte deutschlandweit eine Quote von 0,4 Prozent Hörern. Das sind gerade mal 241,29 Hörer, genauer: Befragte, die angaben „gestern“ dieses Programm gehört zu haben. Damit weiß man allerdings nicht, was und mit welcher Dauer gehört wurde oder ob überhaupt gehört wurde. Um in der Media-Analyse 0,1 Prozent mehr oder weniger Hörer zu bekommen, bedarf es etwa 60 weiterer Personen. Nur: Welche Konsequenzen werden bei NDR Kultur daraus gezogen? Barbara Mirow, Wellenchefin beim NDR, sieht beispielsweise die Notwendigkeit, in das Programm häufig so genannte Claims einzustreuen. Das sind wiederkehrende Programm-Ansagen der Art: „NDR Kultur – Der Klassiker.“ Mirow führt dazu aus: „Den Namen des Programms bekannt zu machen, hat sich als dringend nötig erwiesen, da es nur dann bei den regelmäßig stattfindenden Meinungsumfragen richtig genannt und somit in Bezug auf seine Hörerzahl korrekt gemessen werden kann. Auch jetzt werden wir noch häufig als ‚N3’, ‚NDR 3’ oder auch als ‚Radio Kultur’ bezeichnet. Um hier zu eindeutigen Antworten zu gelangen, ist es unerlässlich, dass Hörer und Hörerinnen das gehörte Programm genau benennen können.“ Ist es der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die Hörer dazu zu erziehen, bei Meinungsumfragen den gehörten (oder nichtgehörten) Sender richtig benennen zu können? Das kann es doch wohl nicht sein.
Noch einmal zu NDR Kultur. Obwohl Quoten bei Minderheitenprogrammen nicht genau ermittelt werden können, führen Veränderungen zu drastischen Maßnahmen. Das war auch bei NDR Kultur der Fall. So berichtet der Programmdirektor des NDR, Gernot Romann, in einem Beitrag für das im Hause produzierte Klassikclub Magazin: „Vor rund drei Jahren sahen sich Programmverantwortliche und Programmmacher von NDR Kultur (damals Radio 3) mit alarmierenden und bis dato nie da gewesenen Einbußen von Reichweite konfrontiert. Der dramatische Hörerverlust in Hamburg von 3,0 Prozent Hörern gestern im Jahre 2001 auf 0,7 Prozent im Jahr 2002, bildete schließlich den Ausgangspunkt für grundlegende Programmanalysen und -überlegungen sowie für sorgfältige und umfangreiche Medienforschungsaktivitäten.“ Vielleicht hätte es auch weniger getan. Denn woran es liegen mag, dass in einem Jahr nur und ohne große Veränderung der Programmstruktur die Hörerzahl angeblich so dramatisch zurückgeht? Haben sich die Hörer in dieser kurzen Zeit so stark in ihrer Programmwahl verändert? Die Programmreform kam und bewirkte die Umarbeitung zu einem „durchhörbaren“ Programm mit musikalischen Schmankerln – als ein sogenanntes Tagesbegleitprogramm. Zu welchen Ergebnissen derartige Forschungen kommen, hat vor einem Jahr Barbara Molsen, die Hörfunkchefin des MDR klar gemacht als sie sagte: „Der Begriff Kultur ist sehr tradiert besetzt und schafft eher eine Zugangsbarriere“ und MDR KULTUR in MDR FIGARO umtaufte. Doch geht es längst nicht mehr um den Begriff, sondern seinen Inhalt. Kultur selbst wird von Verantwortungsträgern im Funk offenbar als Zugangsbarriere empfunden und in Quotenniederpreisigkeit aus den Programmen verjagt.
Kritik der Kulturwellen
Mittlerweile hat sich gegen die NDR-Reform eine Art Bürgerinitiative gebildet unter dem Namen „Das GANZE Werk“ (http://www.dasganzewerk.de), die „sich für den Erhalt kultureller Standards einsetzt und als Kompromiss verlangt, dass von 6 bis 19 Uhr in einer Dauer von mindestens vier Stunden ganze Werke gesendet werden, so wie es bisher üblich war, wie es in anderen Sendegebieten geschieht und wie es viele Stammhörer schätzen.“ (siehe auch den Bericht von Andreas Kolb). Die Entwicklung bei NDR Kultur ist nur ein drastisches Beispiel in Richtung der Verflachung des Kulturprogramms bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Ähnlich wandelte sich Anfang 2004 MDR KULTUR zu MDR Figaro; WDR und HR reformierten sich ebenfalls, wobei das Kulturprogramm WDR 3 bestimmte Änderungen unterdessen stillschweigend zurücknahm, die Situation dadurch aber noch verschlimmerte. So berichtete Andreas Rossmann in der FAZ vom 14. September 2004 unter dem Titel „Schönes bleibt. Das Kulturradio WDR 3 nimmt seine Reform heimlich zurück“: „Die kleinlaute Revision der groß angekündigten Reform geht aber noch hinter den altbewährten Status quo ante zurück. … Statt mehr gibt es künftig weniger aktuelle Kultur auf dem ‚Kulturradio’ WDR 3.“
Die Kritik ist längst beidseitig. Der Programmdirektor des NDR, Gernot Romann, bezeichnet die Kritiker des Programms von NDR Kultur als „Kultur-Ajatollahs“. Die Kritiker selbst verweisen auf den Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In einer Entschließung der Mitgliederversammlung der „Akademie der Künste“ vom 5. Juni 2004 wird kritisiert und gefordert: „Einer so genannten Durchhörbarkeit und den vermeintlichen Interessen eines jüngeren Publikums verpflichtet, werden anspruchsvolle Wortsendungen und zeitgenössische Musik verdrängt, Feature-Termine gekürzt, Literatursendungen gestrichen oder auf unattraktive Sendeplätze verschoben.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, noch immer eine der wichtigen Kulturinstitutionen, läuft Gefahr, seinen intellektuellen Anspruch preiszugeben: Auf der Jagd nach Publikumsquoten im Wettbewerb mit den am Kommerz orientierten Sendern riskiert er Eigenart und Qualität.“ Der Deutsche Musikrat, sozusagen der höchste Rat der musikalischen „Kultur-Ajatollahs“ hat sich eingeklinkt und stellte am 18. August 2004 fest: „Um jüngere Menschen an das Kulturradio heranzuführen, ist der Versuch zu beobachten, Kulturkanäle verstärkt zum Begleitradio zu entwickeln. Man entfernt sich dadurch aber von anspruchsvollen musikalischen Konzepten mit der Gefahr einer qualitativen Verflachung bis hin zur Beliebigkeit. Kein Wunder also, wenn sich kulturell anspruchsvolle Hörerkreise enttäuscht abwenden und den Kulturkanälen verloren gehen.“ Wenn das mal nicht ein Angriff auf die Rundfunkfreiheit ist, die Gernot Romann fürchtet? Immer klarer wird: Es geht inzwischen um eine Kulturfreiheit des Rundfunks als eine Befreiung von Kultur.