Im Sommer dieses Jahres fand in Graz der vom Institut für Aufführungspraxis der dortigen Hochschule für Musik und darstellende Kunst initiierte und durchgeführte internationale Kongreß über „Violinspiel und Violinmusik in Geschichte und Gegenwart“ statt.
Bei einem derart komplexen Generalthema hätte man befürchten können, daß nicht alle darin enthaltenen Aspekte innerhalb einer Woche wirklich abgehandelt werden könnten, und daß das Vielerlei der Probleme eher das Konsequente eines einzelnen Fragenkomplexes verdecken könnte. Doch hat sich am Ende des Kongresses einer der prominentesten Teilnehmer, Lew Ginsburg aus Moskau, sehr positiv über den Kongreß ausgesprochen. Er sei der erste in dieser Größe zum Thema gewesen und habe sehr viele neue Begegnungen ermöglicht. Die Leiterin des Instituts für Aufführungspraxis, Frau Vera Schwarz, hat in einem abschließenden Gespräch das Nebeneinander von Generationen, von Meinungen aus Ost und West, von pädagogischen, historiographischen, psychologischen, physiologischen und werkanalytischen Gesichtspunkten als programmatische Absicht erklärt.
Als ein handgreifliches Ergebnis ist die einvernehmliche Entscheidung der Teilnehmer, sich in der „European String Teachers Association“ zusammenzuschließen, zu werten. Ziel dieser Organisation soll sein: die Aufwertung des Ansehens des Orchestermusikers durch entsprechende Berufswerbung, die Verbesserung des Niveaus bei Lehrern und Schülern sowie eine intensivere Beziehung der Musikinstitute untereinander. Grundlagen zur Beurteilung dieser Fragen lieferte vor allem der Vortrag von Max Rostal (Bern) über die „Problematik des Streicherberufes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, worin die vielschichtigen Gründe mangelnder Kommunikation aufgedeckt wurden, darunter auch verborgenere Ursachen wie das Hüten der „Berufsgeheimnisse“ mancher Musiker. Als ein Gegengewicht zu den vielfach aufgerissenen historischen Aspekten des Violinspiels war der Vortrag von Rudolf Kolisch, dem seinerzeitigen Begründer des berühmten, dem Wiener Kreis Schönbergs nahestehenden Quartetts, zu verstehen: Kolisch sprach geradeheraus von der „Religion der Streicher“, die ihr Heil in der diatonischen Natur des Instruments sähe. Er sprach von seiner Position „für die Musik und gegen das Instrument“, das bedeutet eine Entscheidung in dem Dilemma, daß die abendländische Musikentwicklung gegenüber der relativ geringen Veränderlichkeit des Instruments um vier Jahrhunderte fortgeschritten ist.
Die Festansprache zur Eröffnung hatte Wolfgang Schneiderhan gehalten, der seinen eigenen Werdegang schilderte und Porträts seiner Lehrer Sevcik und Winkler skizzierte. Konzertante Veranstaltungen – darunter Violinabende von Liana Issakadse aus Moskau, Thomas Goldschmidt aus der BRD und Ernst Kovacic aus Wien sowie Ausstellungen rundeten das Bild des Kongresses ab.
Ilsa Nedetzky, Neue Musikzeitung, XXI. Jg., Nr. 5, Oktober/November 1972