Glänzender hätte die Eröffnung seiner Residenz an der Philharmonie Essen für Christoph Eschenbach nicht ausfallen können. Kunststück! kann man sagen. Mit einem solchen Partner an der Seite muss es ja gelingen. Einer, der hingeht, um uns mit einem Ruck den Grauschleier unserer Liederabend-Konvention von den Lidern zu reißen. Bewegender als von Matthias Goerne wird Schuberts Müllerin-Zyklus gegenwärtig nicht musiziert.
Wozu Eschenbach ein Klavierspiel beisteuert, das sich nicht minder von allen Konventionalismen gelöst hat. Was hier geschieht, ist etwas anderes als diese oder jene Form von Klavierbegleitung. Bis in die letzte Phrase hinein hält Eschenbach am Ausdruckswillen fest. Alles ist eigenständig, nichts darf sich anhören wie: Ach ja, ich weiß schon! Im Ergebnis klingt das dann nicht selten so, als ob Eschenbach ein Stück neue Musik auf seinem Pult aufgeschlagen hätte. Was wir also lernen von Eschenbach? Dass die Terz nicht selig, sondern (wie sie das schon einmal war) eher eine Dissonanz ist. Ein ganz neuer Eindruck, der schier verblüffend ist. Was wiederum entscheidend damit zu tun hat, dass auch Eschenbach in „Der schönen Müllerin“ nicht mehr das Folkloristisch-Biedermeierliche einer nun leider traurig ausgehenden Liebe sieht, sondern das Drama, das es ist. Eins, das über das Selbstgespräch in den Tod führt, konsequent mit diesen an den Wahnsinn grenzenden Fieberfantasien.
Die gespenstische Wirkung des abschließend-abgründigen Lockrufs „Will betten dich kühl“ erreicht Matthias Goerne neben seinem obligatorischen Legato sempre über ein extrem gedehntes Tempo, so dass er uns beim „blauen kristallenen Kämmerlein“ tatsächlich in einen geöffneten Sarg starren lässt. Längst hat Goerne da seine ohnehin kaum eingenommene Sängerhaltung aufgegeben. Schubert? Für Goerne Musiktheater pur. Alles, was er macht ist aus diesem Dramma per musica entwickelt. Auch seine kleinen Choreografien, die seinen Auftritt begleiten, ohne dass man zu irgendeinem Zeitpunkt den Eindruck hätte, sie seien bloß aufgesetzt. Das macht das Identifikatorische, das Nicht-„Interpretierende“ seines Vortrags. Säuselt der Bach sein „Wiegenlied“ vom Tod, vollführt Goerne schwebend-tänzelnde Pantomime-Schritte. Oder, noch so ein berührendes Bild, im „Tränenregen“ sucht Goerne Schutz unter dem Klavierdeckel: Die Kunst ist ein Haus.
Habe Mut!
Eins, in dem sich die Studierenden der anderntags folgenden „Masterclass“ oftmals noch so bewegen als wären sie zur Vorbesichtigung gekommen. Was in diesen öffentlich exerzierten Arbeitssitzungen vor allem auffiel, war der mehr oder minder große Abstand in der Haltung. So richtig und nachhaltig (wie es sein sollte) scheint das Bewegende, das Neue an Eschenbachs/Goernes Müllerin-Zyklus beim sängerischen Nachwuchs noch nicht angekommen zu sein. Nicht nur die von Goerne wie von Eschenbach erstaunlich häufig bemängelten technischen Fehler gaben hier zu denken – auffällig war der Hang zu jener von den beiden Meistern gerade verlassenen Positionen der Liederabend-Schubert-Konvention. Darin lag vielleicht der wichtigste Erkenntnismoment dieser öffentlichen Lehrstunden.
Man merkte, dass es ein Unterschied ist, ein zurechtgelegtes Produkt mit der Aufschrift „Schubert“ abrufbereit zu halten oder das Musikdrama gleichen Namens in jedem Moment erstehen zu lassen.
Wie zum Mitschreiben ins studentische Kollegheft war es Matthias Goerne, der diese wohl wichtigste Aufgabe in den schönen Merksatz fasste: „Man muss den Mut haben zum persönlichen Ausdruck.“ Und wobei Eschenbach dann schon mal, adressiert an eine junge chinesische Pianistin, ein herrliches „Nicht so deutsch!“ hinzufügen konnte. Und wenn dann wiederum Goerne in seiner impulsiven Art vormachte, wie es zu gehen hat, das „Dazu bin auch ich kommandiert“ aus Schumanns „Soldat“, schien der Funke ebenso auf seinen Klavierpartner überzuspringen als hätte auch dieser in diesem Moment etwas bestätigt gefunden: Neugierde als Haltung. Von der (jetzt beginnenden) Essener Eschenbach-Residenz wird man sich Einiges versprechen dürfen.