Am 11. September 2001 wurde die Südspitze von New York, das Financial District, empfindlich getroffen. Symbolisch wurde mit den Twin Towers der von den USA angeführte westliche Finanzkapitalismus zum Einsturz gebracht. Es dauerte genau sieben Jahre, bis er auch ökonomisch zusammenbrach. Am 15. September 2008 hörte der Investmentkapitalismus anglosächsischer Art auf zu existieren, nachdem der amerikanische Finanzminister „Lehman Brothers“ in die Pleite laufen ließ.
In diesen sieben Jahren wurden alle Maßnahmen versäumt, um eine solche Entwicklung aufzuhalten. Die Warnung von einst verhallte. George W. Bush, der in dieser Zeit ökologisch, ökonomisch und militärisch ein weltweites Desaster anrichtete und den „Angriff auf die Vernunft“ (Al Gore) anführte, wird als der unfähigste Präsident der neueren Geschichte gelten. Der 11. September mag das Ende des amerikanischen Jahrhunderts bedeuten. Und vielleicht wird einmal das Datum des 8. August 2008, als um 8:08 Uhr abends, Ortszeit, in Beijing die Olympischen Spiele eröffnet wurden, den Beginn des Jahrhunderts von China markiert haben, eines Landes, das souverän und fast spielerisch zeigte, dass es nun da ist.
Am 15. September endet – vorerst – der Neoliberalismus, der, mit Vorläufern in den 70er-Jahren, nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Staatskapitalismus und nicht zuletzt von der Regierung Clinton unterstützt, Wirtschaft und Gesellschaft beherrschte und dadurch unser aller Leben, unser Denken und auch unser Fühlen durchdrang, in einem Ausmaß, das wir erst zu erahnen beginnen. Am 4. November 2008, mit der triumphalen Wahl Barack Obamas, endet der US-Neokonservativismus, der, aus den 60er-Jahren stammend, in der Reagan-Ära seine Blüte hatte und durch das Geschichtsunglück defekter Wahlmaschinen in Florida am Beginn des 21. Jahrhunderts verhängnisvoll die Weltgeschichte um wertvolle Jahre zurückwarf.
Das ist der Horizont einer der politisch aufregendsten Zeiten des Wandels seit 1989/1991. Unter der Perspektive des drängendsten Problems der Menschheit, der Rettung des Klimas unseres geschundenen Planeten – und davon hängen alle weiteren Probleme wie Ernährung, Biodiversität, Verteilungsgerechtigkeit, Religionsfrieden ab –, muss man eigentlich erleichtert sein, dass der Crash rechtzeitig erfolgte und nicht nach einer Wahl von John McCain und – verhängnisvoll – Sarah Palin, oder nachdem das Nordpolareis gänzlich abgeschmolzen sein würde. Die für 2009 prognostizierte Rezession soll Anlass sein, unseren westlichen Lebensstil grundsätzlich und radikal zu überdenken und einen Zukunftsplan zu entwerfen.
Ich habe nach dem 11. September in dieser Zeitung einen Text veröffentlicht, in dem von einem Aufwachen nach einer tödlichen Siesta die Rede war. Heute muss ich eingestehen, dass ein Aufwachen, ein Umdenken in jenen sieben Jahren nicht stattgefunden hat, zumindest nicht im Bereich von Kunst, Kultur und Philosophie. Ob die Wucht der jetzigen Krise ausreicht, um die Akteure wachzurütteln? Wird durch die gewaltigen strukturellen Veränderungen, die den westlichen Gesellschaften bevorstehen, ein Umdenken erzwungen? Die Klimakatastrophe scheint zwar bei den Politikern und Wissenschaftlern angekommen – aber auch bei den Musikern und Intellektuellen?
Noch nie war die Menschheit so wissend, aufgeklärt, gebildet und intelligent. Für die wichtigsten Probleme unseres Planeten existieren die entsprechenden wissenschaftlichen und politischen Antworten. Am Expertenwissen liegt unsere Misere nicht. Und zugleich ist das Ausmaß an Verblendung, Ideologie, falschem Bewusstsein, an Hetze und schierem Egoismus, an kulturindustrieller Dekonzentrierung und Denkfaulheit so groß wie lange nicht mehr – auch eine Folge eines politisch-ökonomischen Ansatzes, der auf Privatisierung als Fetisch setzt und das Gemeinwohl, die Polis, unter einen Generalverdacht setzt. Zu der zynischen Formel der Ich-AG passt der iPod-Träger, dessen Kopfhörer mit monoton rhythmisierten Geräuschkompilationen jene Stille zerstört, die zum wirklichen Hören von Musik nötig wäre. Akustische Narkotisierung, Weltverleugnung, Privatismus, Gehirndeprivation sind die neurotischen Symptome eines Weltbildes, das Verständigung, Solidarität, Zu-Hören, Öffnung und Welterschließung zu Nischenphänomenen erklärt.
Gerhard Rohde warnte in der November-Ausgabe dieser Zeitung vor dem „Rückzug der Subventionen“ in Sachen Kunst. Aber machen wir uns nichts vor, natürlich werden Kulturreaktionäre und Banausen die Wirtschaftskrise zum Anlass nehmen, die Kunst, ja die Kultur insgesamt überproportional abzustrafen. Das war nach 2001 der Fall, und das wird auch jetzt so kommen. Freilich muss man erkennen: Subventionen sind die zeitlich befristete Förderung von Wirtschaftszweigen, etwa der Kohle; Ausgaben für Bildung, Wissenschaft, Sport, Gesundheit et cetera sind hingegen Investitionen in die Zukunft und verfassungsrechtlich verbindliche Pflichten des Staates. Von „Subvention“ zu sprechen ist mithin bereits falsch und Ausdruck von Defensivität. Umgekehrt müssen die Kulturschaffenden, gerade jetzt, die Bildungsinitiative der Kanzlerin beim Wort nehmen und das Bewusstsein stärken, dass nicht erst seit PISA Deutschland in Bildung, Wissenschaft und Kultur investieren muss. Es geht um nichts Geringeres als die Rehabilitierung des Geistes für Alle. Die Antwort der Neuen Musik auf den 11. September blieb bekanntlich aus. Und ich befürchte, dass auch diesmal ihr Beitrag an der bevorstehenden kulturellen Neuorientierung gegen null schrumpft.
Claus Spahn merkte in seiner Besprechung der Donaueschinger Musiktage 2001 an, dass in der Szene jedweder Niederschlag des katastrophalen Ereignisses davor gefehlt habe. Und wie war es in diesem Jahr? Durch welche konkreten Änderungen und auch nur dezidierten Positionierungen möchte die Neue Musik ihre politische und kulturelle Legitimation unter Beweis stellen? Können wir nicht von den Begabtesten unserer Kunst erwarten, dass sie auf Gegenwart reagieren? Immerhin gibt es seit Stockhausens Wende nach 1968 zur Privatesoterik zwei positive künstlerische Neudefinitionen: die von Luigi Nono in der Zeit zwischen 1975 und 1980 als Antwort auf das Scheitern der linken Utopien und die von Klaus Huber, der seit 1990 ein polykulturelles Alterswerk ausbaut, um auf die großen Krisenherde im Verhältnis zum Westen zu reagieren. Während die öffentliche Diskussion auf breiter Front ein „weiter so“ ablehnt, steht zu befürchten, dass die Neue Musik einfach weitermacht wie bisher. Dafür gibt es sogar Gründe.
Markt korrumpiert Kunst
Man muss kein Marxist sein und sich des Gedankens erinnern, dass das Sein das Bewusstsein bestimme und, sollte dieser Zusammenhang nicht reflektiert werden, falsches Bewusstsein entstehe, um doch ein wenig Sensibilität bewahrt zu haben und zu spüren, dass der neoliberal-neokonservative Geist auch auf die Kunst und die dortigen Akteure durchgeschlagen hat. Damien Hirst, der englische Multimillionär, der unter der Schutzbehauptung, es handele sich um Kunst, Luxusgüter für nicht nur russische und chinesische Superreiche herstellen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit bei Sotheby‘s versteigern lässt, ist symptomatisch für diesen Zeitgeist. Dass seine berüchtigte Versteigerung just am 15. September 2008 angesetzt war, als in den benachbarten Straßen Londons die Banker ihre Sachen packen sollten, zeigt perfekt: Jene Versteigerung ist der Gipfel des Zynismus und hoffentlich der dialektische Wendepunkt. Jeder, dem Kunst noch etwas bedeutet, wird erkennen, dass der Markt die Kunst korrumpiert, aus Kunst, die doch wahr sein soll, eine Ware macht.
Solcher Druck lastet auch auf der Musik. Der neoliberale Ungeist, der nur Karriere und Geld im Sinn hat, hat übrigens nicht nur die Neue Musik im Griff, sondern die Kunstmusik insgesamt. Man denke an die Groteske namens Lang Lang, an das Hochglanzmagazinsternchen Anna Netrebko oder an die als Interpretin überschätzte Anne-Sophie Mutter. Der westliche Lebensstil, konsumistisch, verschwenderisch und geldgierig, steht insgesamt zur Disposition, und nicht nur, weil nun auch China dem Westen genau das vorhält. Er ist einfach zu teuer und für die planetarische Ökologie untragbar geworden. Vor allem die US-Amerikaner, die Weltmeister in Verschwendung, werden sich darauf einstellen müssen. Nachhaltigkeit, das Gegenteil von minderer Qualität, wäre das Signum einer ökologisch-sozial-kulturellen Revolution. Die Europäische Union könnte hier Avantgarde sein.
Für das zeitgenössische Komponieren bedeutete das beispielsweise die Überwindung des absurden Uraufführungsmarathons zugunsten von Qualitätsproduktion und Repertoirebildung durch ausreichende Probezeit und wiederholte Aufführungen. Die Überwindung des Umstands, dass kaum noch anspruchsvolle Werke geschrieben werden, weil die Komponisten natürlich wissen, dass die Probezeiten immer kürzer werden und allermeist nur „leichte“ Musik die Runde macht. Dass vertiefende Rezeption in der Eventkultur praktisch verschwunden ist. Und – das Fatalste – dass diejenigen jüngeren und mittleren Komponisten, auf die es ankäme, in der Regel nach einigen Jahren enttäuschen, weil sie auf der Stelle treten, sich zu sehr an den Betrieb angepasst, gar mundtot gemacht haben, kaum etwas wagen, nicht selten zur Eigenepigonalität übergehen oder sogar kommerziell werden. Das neoliberale Zeitalter zeigte genau hier seinen tödlichen Impakt.
Wiederherstellung der Welt
Den Zukunftshorizont der Menschheit möchte ich mit zwei Gedanken skizzieren, die aus der jüdischen Tradition stammen. „Schalom“ ist nicht einfach eine Begrüßungsfloskel, es ist ein Wort, das Friede und Vollkommenheit bedeutet und daran gemahnt, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Walter Benjamin schrieb, dass, solange es noch einen Bettler gibt, es Mythos geben werde. Schaffen wir also die Bettelei gänzlich ab und reden dann erneut über richtiges und falsches Bewusstsein. „Tiqqun ha-olam“ ist eine Gedankenfigur aus dem Talmud und bedeutet die Reparatur, die Wiederherstellung, die Vervollkommnung der Welt. Ebendiese Idee war auch der utopische Horizont für Denker von Kant bis zu Habermas und Derrida, für Komponisten wie Nono und Klaus Huber und für unzählige „kommunistische“ Künstler der Moderne. Angesichts der Welt, wie sie ist, dass sie zwar nicht die beste aller möglichen Welten ist, dass aber die beste aller möglichen Welten unser Ziel sein muss – für diesen normativen Rahmen sehe ich keine Alternative.
Da ich selbst Komponist bin, steht es mir nicht zu, solche normativen Ansprüche auf die Neue Musik zu übertragen. Allerdings muss auch das glücklicherweise stabile und einigermaßen gut funktionierende System der Kunstmusik, gerade unter veränderten strukturellen Prämissen, sich Fragen einer sich zivilgesellschaftlich artikulierenden, demokratisch gesonnenen und kulturell interessierten Öffentlichkeit gefallen lassen. Es täte ihr gut, wenn sie sich um Antworten kümmerte. Das freilich setzt ein Aufwachen voraus. Der Neoliberalismus in der Musik war die notwendige Folge in der Endphase des kulturellen Postmodernismus, der Neokonservativismus der Musik der freiwillige Verzicht auf Autonomie, Resistenza und Eigenlogik. Beides bewirkte eine Umstellung des Künstlers auf den Produzenten durchschaubarer, leicht konsumierbarer und praktikabler Dutzendware, vermischt mit Geniekult einerseits, einem eiskalt kalkulierenden Management andererseits. Da nun die sowohl sozioökonomische wie ideologische Basis dafür wegzubrechen beginnt, sollte, zumindest ist die Zeit dafür günstig, auch der kulturelle Überbau auf die Höhe des Weltproblembewusstseins gestellt werden. Oder wollen wir warten, bis der Golfstrom abbricht und Westeuropa zuzufrieren beginnt?