Im „Verdi-Jahr“ hat sich bislang kaum etwas ereignet, das nachhaltig in Erinnerung zu bleiben verspricht. Jens-Daniel Herzogs „Don Carlo“ am Nationaltheater Mannheim zum Beispiel, versetzt in die ziemlich operettenhafte Welt eines „geliebten Führers“ des 20. Jahrhunderts, blieb schon konzeptionell hinter den Erwartungen zurück.
Der vom Bayerischen Staatsopernintendanten Nikolaus Bachler im Rahmen der Münchener Opernfestspiele mit La Fura dels Baus und dem Komponisten Moritz Eggert anberaumte Wettstreit zwischen Vagner (assoziiert mit Gehirn) und Werdi (Herz) dürfte als Peinlichkeit in die Annalen eingehen. Im engeren Sinne künstlerisch bemerkenswert erwies sich bislang auf internationalem Parkett nur die Überarbeitung einer älteren Grazer „Rigoletto“-Inszenierung von Tatjana Gürbaca für das Züricher Opernhaus.
Diese Oper, historisch kenntnisreich und mit Geschmack reaktiviert von Robert Carsen, diente auch dem Festival d’Aix als Auftakt für die fünf Premieren des Jahrgangs 2013. Es folgte unmittelbar der von Dmitri Tcherniakov 2010 inszenierte „Don Giovanni“ – allerdings in allen wichtigen Partien und nicht durchweg zum Vorteil der Produktion umbesetzt (z.B. Rod Gilfry statt Bo Skovhus in der Titelpartie) und daher auch erheblich überarbeitet. Die vor drei Jahren als informelle historische Informanten um Louis Langrée gescharten Musiker des Freiburger Barockorchesters wurden durch das unter Marc Minkowski im Gestus der 1950er Jahre aufspielende London Symphony Orchstra ersetzt, ohne dass auf das genaue Zusammenwirken von Bühne und Graben gebührende Aufmerksamkeit verwendet worden wäre.
Francesco Maria Piaves und Verdis „Rigoletto“ ist, nicht anders als Lorenzo da Pontes und Mozarts „Don Giovanni“, ein Stück zum Wechselspiel von Macht und sexueller Triebbefriedigung. Dass die Handlung so weit in die Geschichte entrückte – ins Mantova der Renaissance –, ist der habsburgischen Zensur in Venedig geschuldet, wo dieses Melodramma 1851 am Teatro la Fenice erstmals aufgeführt wurde. Die Gegenwartsbezüge sind in der literarischen Vorlage, dem 1833 in Paris uraufgeführten Drama Le Roi s'amuse von Victor Hugo, deutlicher.
Der historisch und literarisch kundige Robert Carsen widerstand der nahe liegenden Versuchung, die Geschichte vom Renaissance-Hofnarren in der Bunga-Bunga-Welt eines erst kürzlich zum Rückzug aus der Politik genötigten Finanzmagnaten anzusiedeln. Carsen beorderte Rigoletto in eine von Radu und Miruna Boruzescu konzipierte und kostümierte Zirkuswelt. Die blieb auch des Weiteren der Rahmen für die Tragödie des vereinsamten, egozentrisch verbohrten Rigoletto. Da die Freiluftbühne ihm Hof der Archevêché weder über eine Drehvorrichtung noch über eine nennenswerte Obermaschinerie verfügt, sind ohnedies nur kleinere Varianten in einem Einheitsbühnenbild möglich. Das zirzensische Konzept geht auf: Gilda wohnt in einem schäbigen kleinen Zirkuswagen, entsteigt dort einem sichtlich zu klein gewordenen Kinderbett und versucht den Zudringlichkeiten der Vaterliebe auszuweichen. Sie verliebt sich in der selbstreferentiellen Zirkuswelt in einen jungen Mann, der sich als Student ausgibt, aber der auf Pirsch nach erotisch-sexuellen Abenteuern herumschnoppernde „Direktor“ ist. Das erscheint als sinnvolle Mutation der Figur des Herzogs.
Die russische Sopranistin Irina Lungu verkörpert als Gilda in Aix-en-Provence glaubhaft eine Fünfzehn- oder Sechzehnjährige und eine von allen Höflingen bewunderte Schönheit. Sie besticht nach gewissen Anfangsschwierigkeiten mit geschmeidigen Koloraturen, präzise platzierten Spitzentönen und angenehmer Befähigung zum Ensemble-Gesang. Arturo Chacón-Cruz gibt den leichtfertigen jungen Monarchen und Ehemann mit erfreulicher Leichtigkeit. Da er nicht allzu groß gewachsen ist, ließ ihn Robert Carsen bei der von leicht bekleideten Damen animierten Arena-Party zu Beginn erst einmal von den Löwen-Podesten aus singen, um seine amtliche Würde zu erhöhen. Dieser Tenor ist freilich ein Mann, dem man die Eroberungen auf Anhieb glaubt. Und zu diesem Typus schöner Männlichkeit passt auch, dass er sich im zweiten und dritten Akt mit der Gattin, Gilda und Maddalena zugleich wohl etwas übernimmt, daher stimmlich forciert und leicht schwächelt. Für den schärfsten Kontrast sorgt der markige Bariton George Gagnidze in der Titelpartie – als ein vom Leben gebeutelter Chefberater in der nur bedingt komischen, bald so erkennbar tragischen Rolle.
Gagnidze verharrt bis zum bitteren Ende in der Varieté-Sphäre. Unter dem Zirkushimmel mit seinen glitzernden Sternchen hebt, von der ersten Liebe erfasst, Gilda auf einer Schaukel ab und singt wie eine Prinzessin der Nacht in den samtblauschwarzen provençalischen Nachthimmel hinüber. Im zweiten Akt, In Erwartung der Freuden mit der ihm gewaltsam zugeführten Gilda zieht sich der Heldentenor mitten in der Arena aus – nach den Socken auch noch die Unterhose. Das sorgt für kenntnisreiche Lacher beim Festspielpublikum (gefühlter Altersdurchschnitt: 67,2 Jahre). Eine transparente zirzensische Lösung wurde auch für das Endspiel in Sparafuciles verlottert-verwunschenem Bewirtungsbetrieb am Stadtrand gefunden: Das Gast- und Hurenhaus besteht aus dicken Seilen und Strickleitern, die von einem in luftiger Höhe lauernden Trampolin vor der herzoglichen Zirkus-Loge herunterhängen. Die Szenen der eklatanten doppelten Untreue des Herzogs, der Mordvorbereitungen, des nächtlichen Unwetters und der absichtsvollen Verwechslung des Opfers begleitet das London Symphony Orchestra genau und engagiert. Gianandrea Noseda, ein Kapellmeister vom guten alten Schlag, versteht die Nuancen wie die deftigen Effekte der Verdischen Musik unter den besonderen open-air-Bedingungen zu nutzen.
Der im besten Sinn „konservativ“ erscheinende Zuschnitt der Musik fügt sich bestens zu einem Modell des nicht-deutschen Regisseurstheaters: Robert Carsen operiert bei diesem „Rigoletto“, wie allemal, mit Zeit- und Ortsverschiebungen sowie Einheitsbühnenbild und Fingerzeigen auf den historischen Kontext der Entstehungszeit des Werks, aber ohne dekonstruktiven Furor, ohne allzu drastische Akzentuierung der Grausamkeiten und ohne das gerne so lächerliche Gerammle auf offener Bühne.