„Santa Chiara“ stammt aus der Feder von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha. Die über Jahrzehnte hinweg europaweit gespielte Oper wurde zum letzten Mal 1927 aufgeführt. Nun bringt das Meininger Theater die abenteuerliche Legende um Prinzessin Charlotte von Wolfenbüttel erneut auf die Bühne. Regisseur Hendrik Müller erklärt im Gespräch mit Antje Rößler, warum sich eine Wiederentdeckung lohnt.
Antje Rößler: Lag der einstige Erfolg von „Santa Chiara“ nur der Personalie des Komponisten?
Hendrik Müller: Herzog Ernst wollte sein politisches Wirken von seinem künstlerischen Schaffen getrennt sehen. Das ist natürlich eine Illusion. Aber er nahm die Musik wirklich ernst. „Santa Chiara“ ist die vierte seiner fünf abendfüllenden Opern. Er hat auch jede Menge Instrumentalwerke und Kammermusik geschrieben.
Was ist das Besondere an „Santa Chiara“?
Der Herzog wollte unbedingt, dass „Santa Chiara“ in Paris gespielt würde. Er unternahm einen der ganz wenigen Versuche, eine deutschsprachige Grand Opéra zu schreiben. In Form und Aufbau folgt er dem Vorbild Meyerbeers. Die Musiksprache verortet sich zwischen Weber, Marschner und dem ernsten Lortzing.
Hat der Herzog selbst instrumentiert?
Dafür wollte er Richard Wagner gewinnen. Das war in den frühen 1850ern durchaus gewagt. Es lag nicht lange zurück, dass Wagner steckbrieflich gesucht wurde, weil er in Dresden auf den Barrikaden stand. Wagner hat freundlich abgelehnt; also übernahm der Konzertmeister der Hofkapelle die Instrumentierung. Franz Liszt dirigierte die Uraufführung 1854 in Gotha.
Worum geht es?
Die Stoffwahl finde ich sehr originell: Es treten ausschließlich historisch verbürgte Figuren auf, deren tatsächliches Schicksal aber überhaupt keine Rolle spielt. Das historische Leben der Hauptfigur, Prinzessin Charlotte Christine von Wolfenbüttel, endet, bevor die Oper überhaupt anfängt. Mit der ersten Szene sind wir bereits in der Legende.
Wie entstand diese Legende?
Zarewitsch Alexej, der Sohn von Peter dem Großen, war im Gegensatz zu seinem Vater sehr reaktionär und hielt die Öffnung des russischen Hofes für europäische Einflüsse für einen Fehler. Gerade deshalb wird er mit der deutschen Prinzessin verheiratet. Die Ehe muss auch nach damaligen Maßstäben sehr furchtbar gewesen sein. Prinzessin Charlotte Christine starb nach der Geburt ihres zweiten Kindes, mit 21 Jahren. Bald taucht das Gerücht auf, sie sei damals nicht gestorben. Heinrich Zschokke schrieb darüber einen Fortsetzungsroman, der in Zeitschriften erschien. Das ist die Vorlage für die Oper.
Wie bewerten Sie deren musikalische Qualität?
Der Herzog war kein Avantgardist. Aber man merkt auf jeder Seite der Partitur, dass er sich bestens im vergangenen und zeitgenössischen Repertoire auskannte. Er eignet sich die Mittel anderer Komponisten sehr geschickt an und verbindet sie zu einer eigenen Tonsprache. Wir behaupten aber nicht, dass sei das absolute Meisterwerk, was noch niemand erkannt hat.
Warum bringen Sie das Stück trotzdem auf die Bühne?
Nur, weil eine Oper vielleicht nicht die Perfektion eines „Falstaff“ oder „Don Giovanni“ erreicht, ist sie doch nicht weniger aufführenswert. Der Kanon auf unseren Opernbühnen ist sehr eng – himmelweit entfernt von der Breite, die das Opernrepertoire vor rund hundert Jahren hatte. Daher begrüße ich erstmal jede Vergrößerung des gespielten Repertoires.
Auch bei eher durchschnittlicher Qualität?
Ich finde es schwierig, objektiv über Qualität zu sprechen und dabei den Kontext auszublenden. Jede Zeit hat ihre eigenen Maßstäbe und definiert ihre Meisterwerke neu. Heute gehört ein Werk wie Poulencs „Dialoge der Karmeliterinnen“ zu den größten Meisterwerken des 20. Jahrhunderts. Dabei wurde es bis vor 20 Jahren quasi nie gespielt. Dafür sind viele einstige „Renner“ von den Bühnen verschwunden. Meisterwerke sind die Spitze des Eisbergs. Aber durch „Santa Chiara“ erfährt man vielleicht mehr über das Theaterschaffen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als aus dem gesamten „Ring“.
Was denn zum Beispiel?
Welche Art von Unterhaltung geschätzt wird, erzählt viel über eine Gesellschaft. Eine interessante Figur ist die Librettistin Charlotte Birch-Pfeifer, die riesige Erfolge mit ihren Bühnenadaptionen beliebter Romane feierte. Eine wohlhabende und unabhängige Frau – das ist nicht selbstverständlich im Kulturschaffen jener Zeit. Ihr Libretto von „Santa Chiara“ ist allerdings wirklich schwierig.
Inwiefern?
Man merkt, dass sie keine erfahrene Librettistin ist. Sie verliert sich in ihrer Blumigkeit. Die Verse sind viel zu lang; mit einer gestelzten, bewusst etwas antikisierenden Grammatik und wahnsinnig vielen Metaphern.
Wie gehen Sie damit um?
Wir tun nicht so, als ob das ein authentisches Sprechen wäre, sondern fragen: Was sind das für Figuren, die so sprechen; die in einem so starren Korsett stecken, dass authentische Sprache nicht passieren kann?
Das klingt nach einer großen Herausforderung für die Regie.
Ich habe hier eine Ansammlung von „Pappkameraden“, die ich ähnlich wie Keimlinge betrachte. Was könnte aufgehen, wenn ich Dünger hinzu gebe. Was wäre, wenn in diesem Stück mehr drinstünde? So hat sich aus den Figuren das interessante Panoptikum einer scheußlichen Familie voller drastischer Beziehungen ergeben. Der Zarewitsch ist eigentlich eine Figur, wie sie als Opernrolle in jener Zeit Frauen vorbehalten war: Er steht von Anfang an am Rande des Wahnsinns.
Sie kitzeln also das Potenzial des Stückes erst heraus?
Genau. Nach einem konventionellen Begriff von Werktreue könnte man sagen, wir stückeln daran rum. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen das Stück heben. Ein Beispiel: Wenn die Prinzessin im ersten Finale vergiftet wird, setzt sie viermal den Kelch an; jedes Mal mit einem neuen Trinkspruch. Ich erkenne genau, was gemeint ist: Hitchcock! Suspense! Aber das Intendierte gelingt den Autoren leider nicht.
Was tun?
Wir verknappen das auf einen einzigen Trinkspruch. Ich halte das für legitim; mit einem sakrosankten Werkbegriff kommt man hier nicht weiter. Da besteht die Gefahr, dass man die Lebensunfähigkeit eines Stückes vorführt. Ich möchte aber als Künstler nicht abwerten, sondern sogenannte Schwächen lieber als Eigentümlichkeiten, Seltsamkeiten betrachten. Das Seltsame ist doch rasend interessant!
- Dieser Beitrag wurde gefördert im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) initiierten Programms NEUSTART KULTUR.