Das Staatstheater Karlsruhe erhebt sich wie eine Festung über der großen Baustelle an der Kriegsstraße. Ein Trojanisches Pferd, das schwer Verdauliches im Bauch trug, steht selbstvergessen vor dem Haupteingang, dem es den aus einem Handfeger gefertigten Schweif über dem Notausgang für Ulisses & Co. zuwendet. Von Krieg – genauer: unmittelbaren Kriegsfolgen – handelt auch „La Vestale“. Die 1807 in der Salle Montansier der Opéra de Paris uraufgeführte Tragédie lyrique führt mit dem Libretto von Victor-Joseph Etienne de Jouy einen Sieger der Geschichte vor Augen und Ohren, den altrömischen Feldherrn Licinius.
Doch der wird seines Triumphs über die Gallier nicht froh. Er liebt, was er nicht begehren dürfte: Die junge Vesta-Priesterin Julia, die vom fanatisch strengen Orden, dem sie keineswegs freiwillig beitrat, auf lebenslängliche unverbrüchliche Keuschheit vereidigt wurde. Sie steht unter strengster Observation und wird auf ihre Beständigkeit hin getestet. Ausgerechnet sie soll dem General, zu dem sich vor seinem Ausrücken in den langwierigen Krieg gegen die Gallier zarte Liebesbande knüpften, jetzt nach seiner siegreichen Rückkehr beim Triumphzug den Lorbeerkranz aufsetzen.
Der Marschtritt der Soldatenstiefel hallt nach in diesem Werk, ebenso das Pathos der Revolutionsfeiern, das Erbe der Hymnen und Nationalfestmusiken von Gossec und Méhul aus den1790er Jahren. Etwas, was in vergleichsweise nobilitierter Weise zur selben Zeit als c-moll-Pathos auch zu einem Grundmuster der Beethovenschen Musik avancierte. Vor allem den Oboen, Klarinetten und Hörnern wurden von Spontini differenzierte Aufgaben zugemutet. Indem die Badische Staatskapelle unter Johannes Willig nach der langsamen Introduktion ins Allegro der Ouverture eintauchte, fasste der Orchesterton auch richtig Tritt. Er entfaltete Dynamik und stellte das historische Gepränge mit Schwung aus. Der Komponist – und darüber führten die Zeitgenossen heftige Kontroversen – erarbeitete für seine Produktionen nicht nur eine sehr effektvolle, sondern auch im Detail sorgfältig gearbeitete Musik (Hector Berlioz und Richard Wagner gehörten zu den Fürsprechern).
1804, als sich Napoléon Bonaparte in der Pariser Kathedrale Notre Dame selbst zum Kaiser der Franzosen krönte und den Code Civil verordnete, reüssierte Gaspare Spontini (1774–1851), ein Günstling seiner Gattin, in der Salle Feydeau mit dem einaktigen Historienstück „Milton“. Mehr noch mit der gleich im Anschluss geschriebenen, jedoch erst drei Jahre später aufgeführten „Vestalin“ setzte Spontini neue Akzente: Diese Oper basierte auf einer von Johann Joachim Winckelmann überlieferten Episode aus dem alten republikanischen Rom und verhandelte den klassischen Konflikt zwischen staatsbürgerlich bzw. durch die göttlich-religiöse Ordnung definierter Pflicht und individueller Neigung – in diesem Fall die der Herzen. Sie steigerte die Mittel des Pariser Melodrams der 1790er Jahre und erzielte, nach übereinstimmender Auskunft der Zeitgenossen, eine neue Dimension der unmittelbaren Wirksamkeit. Spontini kombinierte italienische Errungenschaften mit denen der Schreckens- und Rettungsoper aus den Revolutionsjahren. „La Vestale“ wurde mit seinen drei durchkomponierten Akten zum Meilenstein auf dem Weg zur Grand Opéra, die sich mit Rossinis „Tell“ Ende der 1820er Jahre definitiv herausbildete. Trotz seiner seit den anfänglichen deutsch-konservativen Anfeindungen nicht mehr ernsthaft bestrittenen Qualitäten war dieses Schlüsselwerk der nachrevolutionären Ära in Frankreich seit langem nirgendwo mehr auf der Bühne zu erleben. Das Staatstheater Karlsruhe hat jetzt dem Mangel jetzt Abhilfe geschaffen und in der Regie Aron Stiehls eine Wiederaufführung gewagt.
Wie bereits das Schauspiel mit seiner antiklerikalen Tendenz, hält auch – wie oben erwähnt – die sich ihm zugesellende Musik an republikanischen Usancen und Errungenschaften fest, wiewohl der Wind der politischen Großwetterlage sich kurz vor der Entstehung dieser Oper neuerlich gedreht hatte: Napoléon hatte ein Konkordat mit dem Papst geschlossen und längst begonnen, sich mit den Resten der Elite des Ancien régime auszusöhnen. Doch noch war in der französischen Armee und im Bürgertum Antiklerikalismus vorherrschend – und der Imperator selbst betonte selbst in den Momenten schärfster Abgrenzung von jenen umtriebigen Jahren, die seinen Aufstieg ermöglichten, was er der Revolution verdanke. Der politische Hintergrund der Jahre 1805–07 erscheint mithin als ebenso ambivalent wie die in dieser Zeitspanne mehrfach umgearbeitete Spontini-Oper selbst, die dann nicht zuletzt als Huldigungs- und Repräsentationsstück funktionierte.
Der von Frank Philipp Schlössmann für das Badische Staatstheater entworfene Spiel-Raum verlängerte dessen Betonarchitektur auf die Bühne, auf der die Kostüme grellbunte Farbakzente setzen. Nur einige Embleme (wie ein riesiger Lorbeerkranz) und ein paar Ornamente spielen auf den Antikenkult der napoleonischen Ära an. Holzschnittartig wurde der Konflikt zwischen der religiös fundierten und überhöhten Staatsmacht wie die brutal autoritären Ordnungsmuster des Vestalinnen-Ordens vorgeführt. Die eigentlich dem Ballett gewidmete Episode wurde zur Pantomime umgenutzt: Zu sehen ist die Großvestalin beim Tête-à-tête, wie sie mit dem Oberpriester Sekt trinkt und (auf dem Sofa rammelnd) einem ‚erweiterten Keuschheitsbegriff‘ huldigt. Das ist eine eher billige Auflösung des grundsätzlichen Konflikts zwischen staatsbürgerlich-religiöser Pflicht und Herzensneigung, der im Stück angelegt ist. Das Wunder der Selbstentzündung des Schleiers der wegen ihrer Untreue im Dienst zum Tode verurteilten Julia wird – möglicherweise in Übereinstimmung mit Spontinis Intentionen – entzaubert: der Pontifex Maximus hilft mit einem Streichholz nach. Der Komponist habe irgendwann einmal erklärt, so kolportierte Wagner (allerdings mit bedingter Glaubwürdigkeit), dass ohnedies „das Ganze nur auf Priesterbetrug beruhe und auf Benutzung des Aberglaubens berechnet sei“ („Mein Leben“, München 1983, S. 259).
Die Hauptdarstellerin Barbara Dobrzanska muss und kann mit insgesamt gutem Erfolg eine enorme Sopran-Partie bewältigen, die vom Hoffen und Bangen über die Momente der Depression bis zum strahlend-finalen Glück wechselnde Gemütszustände unmittelbar beglaubigt. Katharine Tier gibt die abgründige Oberin der Vestalinnen mit Verve. Stets mit einem Metallstab zur Durchsetzung der Ordnung bewaffnet, führt sie mit diabolischer Lust die Strenge, Selbstgerechtigkeit und Doppelzüngigkeit vor. Daneben profilieren sich nicht nur Konstantin Gorny, der Pontifex Maximus, als Gegenspieler mit distinguiertem Bass, sondern insbesondere die beiden Tenöre: Andrea Shin als Liebhaber Licinius und der mehrfach brillant hervortretende Steven Ebel. Als Freund Cinna erscheint er auch darstellerisch talentiert.
Ganz am Ende, nachdem die Musik zum Stillstand kam, schob Aron Stiehls Inszenierung einen Coup de théâtre nach: Julia, Licinius und dessen zum Befreiungsakt bewaffnet eingedrungene Elitetruppe, die als Grüppchen am Rand stand, wurden von zwei Scharfschützen mit automatischen Waffen ins Visier genommen. Dieses als grelle Pointe gesetzte Schlussbild hinterließ ambivalente Gefühle: Man konnte die auf nochmalige Entlarvung des „Priesterbetrugs“ zielende Inszenierungs-Konzeption nun klar nachvollziehen und sich des Eindrucks nicht erwehren, die Betreiber dieses Betrugs sollten als Sieger der Geschichte dargestellt werden. Das ist wunderbar plakativ. Die historische Wirklichkeit in den Ländern Europas lief nach anderen Mustern ab und präsentiert sich als Wettringen und Wechselspiel zwischen Aberglauben und Aufklärung, atavistischen gesellschaftlichen „Gesetzen“ und Lockerungsübungen (und Spontinis Werk stelle sich erkennbar auf die Seite der letzteren). Es hätte eine differenzierende Leistung bedeutet, wenn die Inszenierung in Karlsruhe dieses Wechselspiel in der Schwebe gelassen und/oder gezeigt hätte, wie fortdauernder Glaube an Wunder diese immer wieder hervorbringt und alte Loyalitäten neu bestätigt – möglicherweise gerade auch in den Gesellschaftssystemen der Moderne.
All diese Erwägungen mögen andeuten, welchen Rang die Wiederentdeckung des Badischen Staatstheaters einnimmt. Auch, dass es die Chance gegeben hätte, dass eine anders gestrickte Inszenierung der Wucht und Differenzierung der Musik eher gerecht geworden wäre.