Zeit und Platz. Zwei Probleme der fortschrittlichen Medienwelt. Schnell und instruktiv soll es gehen. Eher flüchtig denn ausschweifend. Vor allem Rezensionen jeglicher Art leiden unter dieser Prämisse. CDs, DVDs, Schallplatten, Hörbücher, Konzerte gilt es en passant darzustellen. Oft unter Bauchschmerzen für die Rezensentin oder den Rezensenten.
Weil sie/er doch etwas Besonderes zeigen möchte, etwas Einzigartiges gehört und gesehen hat. Doch dem Diktat der Zeit und des Platzes ist schwer zu entkommen. Die nmz möchte mit der Online-Rubrik „Song für Song“ die Zeit/Platz-Problematik entsorgen. Platz gibt es im Datenmeer des Internets genug. Zeit muss man sich eben für den Platz wieder nehmen. Sofern man an ausführlichen Rezensionen interessiert ist. Und darüber mit anderen diskutieren möchte. „Song für Song“ kann hierfür eine Basis für den Meinungsaustausch mit dem Rezensenten bieten. Er bittet darum.
Wilco – Wilco (the album): Informationen
Produziert von: Wilco and Jim Scott
Aufgenommen von: Jim Scott
Veröffentlichungsdatum: 26.06.2009
Label: Nonesuch Records / Warner Music
Internet: www.wilcoworld.net
Band: Jeff Tweedy, John Stirratt, Glenn Kotche, Mikael Jorgensen, Nels Cline, Pat Sansone
Zur Entstehungsgeschichte:
Wilco nahmen einen Großteil ihres siebten Albums seit Oktober 2008 in Jeff Tweedys Loft zu Chicago auf (sehenswerte Bilder des Lofts auf der Internetseite). Sie wechselten dann nach Auckland (Neuseeland) um sich dort von Neil Finn’s Studio (Crowded House) inspirieren zu lassen. Das dortige Material wurde wieder zurück in Chicago verfeinert und mit dem vorhandenen angeglichen. Fertig war das neue Wilco – Album, erstmalig wieder in der gleichen Besetzung eingespielt wie „Sky Blue Sky“.
Albumsongs:
01. Wilco (the song)
02. Deeper Down
03. One Wing
04. Bull Black Nova
05. You And I
06. You Never Know
07. Country Disappeared
08. Solitaire
09. I'll Fight
10. Sonny Feeling
11. Everlasting Everything
Die Songs
01. Wilco (the song) 3:00
Ein wohltuender Eröffnungssong gleicht einem frühen Tor im WM-Finale. Man ist im Album, im Spiel. Von Anfang an lässt sich die Atmosphäre begreifen und bestenfalls genießen. „Wilco (the song)“ scheint nur auf den ersten Blick ein solch frühes Tor zu sein. Denn so rockig und stampfig geht es mit dem Restalbum nicht weiter. Eine schmale falsche Fährte. Doch drin ist man trotzdem. Es ist ein klassischer Indie-Rocker, den man von Wilco im Schlaf erwarten kann.
Gewohnt kritisch verlangt Tweedy eingangs eine dezente Selbsteinschätzung des Hörers: „Are you under the impression / This isn’t your life?“ Die Melodie dudelt eingängig, ein bisschen Alarm von der Gitarrensirene, eine launige Orgelbegleitung und Jeff Tweedy, der geläutert und präsent in seiner besten Stimmlage singt. Dazu der unvermeidliche Wilco-Break (zweimal kurz alles abstoppen), den wir aus früheren Alben kennen und ein von opulentem Glockenspiel unterstützter B-Teil. Der die fröhliche Stimmung durch Tweedy Feststellung „There’re so many wars that just can’t be won / Even before the battle’s begun“ ein wenig trübt, aber den der schelmische Refrain „Wilco will love you baby“ im Gesamten wieder ausgleicht. Fertig ist der fröhliche, positive Einsteiger, der mit 3:00 Minuten perfekt terminiert ausfällt. Und ja; ein frühes Tor ist.
02. Deeper Down 3:00
Der Name ist Programm. Es geht nach unten. Stimmungs-, lautstärkemäßig und textlich. Eine Hi-Hat, vielleicht ein gedämpftes Ride und belegtes Gitarrenschrammeln leiten den Song ein (Teil A), danach biegt ein unterkühlter, launischer und seelenwunder Refrain um die Kurve (Teil B), der durch eine flüchtige Tempoverschleppung erst seine richtige Wirkung entfaltet.
Textlich hält sich Tweedy kurz, die Tiefen der Musik ergänzen sich mit analogem Wortschatz, der „unten“ als zentrales Thema offenbart: „Deeper still than we can go / Further out than triremes row / Drowning slow, Out beyond the telescope’s pry / Up above the tallest Dutch dope high, Underneath the ocean floor / A part of who we are we don’t explore“. Vielleicht eine Reminiszenz an Tweedys Drogen- und Alkoholkrisen? Eine Zustandsbeschreibung von unten?
Abwechselnd bilden die beiden erwähnten musikalischen Teile den gesamten Song, der am Ende ein zerknirschtes Gitarrensolo einwirft und im Refrain durch eine Steelgitarre das melancholische Fass zum Überlaufen bringt. Ein Song, vergleichbar mit der Fahrt durch ein zerklüftetes Gebirge am Sonntagnachmittag, gegen dessen Hässlichkeit Jeff Tweedy anzusingen versucht. Zu klären bleibt, ob man es bei „Deeper Down“ tatsächlich mit einem Refrain zu tun bekommt.
03. One Wing 3:42
Sehr weit nach vorne gemischt findet sich Tweedys Stimme zu Beginn. Zaghaft führt sie in den Song ein, der durch vereinzelte Schlagzeugeinsätze faul und verzögert startet. Erst nach eineinhalb Minuten setzt das Schlagzeug geradlinig ein und der betulich beginnende Song nimmt Fahrt auf. Gegen Ende wird es eine Songwriter-Nummer, die an Tom Petty erinnert und einen unheilbaren Eindruck schürt.
Ein klassisches Songschema ist nicht auszumachen, allenfalls ein unverkennbarer Refrain, der sich gen Finale steigert und in einem quietschenden Gitarrensolo schließt. Ein Song als Statement? Wahrscheinlich. Denn eventuell vermag man in „One Wing“ Tweedys gesamte Unsicherheit im Kampf mit sich selbst erkennen. „You were a blessing, and I was a curse / I did my best not to make things worse…For you, This happens to all dead weight / Eventually, One wing will never fly / Neither yours nor mine, I fear / We can only wave goodbye“. Mit „Bye Bye“ verabschiedet sich der Song dann auch unter erwähntem Gitarrengequietsche. Ein erkenntnisreicher Abschied?
04. Bull Black Nova 5:39
Ein abstruser Titel aus Tweedys Kosmos. Getragen von einer Orgel, die Windmühlen gleich über den gesamten Song (speziell den Strophen) ein nur selten variiertes Grundschema der Begleitung durchhält. Darüber barmt Tweedy knapp eine Minute („It’s in my hair, It’s on my clothes, It’s in the river over the road, It’s shining down, my angry star”), bevor eine eilige Atempause mit Gitarren Erleichterung verschafft. Um rasch wieder in den alten Trott zurück zu fallen. Interessant. Besonders, da nach zwei Minuten ein Instrumentalteil einsetzt, der eine jazzige Kante erpresst und in Geräuschgeplänkel übergeht. Nicht ohne das Orgelspiel der Strophe zu reanimieren. Diesmal aber ein aggressiverer Tweedy, der sich durchsetzen muss, das aber mit der Erleichterung des Refrains spielend schafft.
Nun wird gejammt. Wie es eben nur Wilco können. Und wollen. Das Orgelthema wird von den Gitarren übernommen, Tweedy schreit, beisst und krächzt sich zum mutmaßlichen Höhepunkt, der aber durch einen sustainreichen Klavierton am Ende doch versagt bleibt. Eine winzige Hooligan – Nummer, deren lyrische Interpretation ein breites Spektrum anbietet. Tweedy fährt in einem Chevy („I’m in a bull black Chevy Nova). Vermutlich auf der Flucht („If I’m the one with blood on my sofa, Blood in the sink, blood in the trunk”). Was passiert ist, scheint ihn zu beunruhigen („This can’t be undone, I can’t calm down“). Uns dann irgendwie auch…
05. You and I 3:27
Ein makelloser Midtemposong, der von attraktiven Akustikgitarren bestimmt wird. Und vom herzergreifenden, zuckersüßen Duett Jeff Tweedy / Leslie Feist. Letztere eine kanadische Countrysängerin, die sich von Tweedy nicht unterbuttern lässt, sondern dem Song ihren Stempel aufdrückt. Obwohl: Tweedy bleibt schon bestimmend, kann das aber geschickt kaschieren. Spannung schaffen beide auch durch die ziemlich verquere Anlage von Text und Musik.
Während beide musikalisch harmonieren wie das klassische, routinierte Ehepaar, zweifeln sie textlich an ihrer Zusammengehörigkeit, an ihrer Vertrautheit und wollen die Unlust sich kennen zu lernen eigentlich aufrecht erhalten („You and I / We might be strangers / However close we get sometimes / It’s like we never met…Oh, I don’t need to know / Everything about you“). Ein Song, der weniger nach Studio klingt, dafür echt und live. Interessant der Fade-out: Klingt nach Gitarre, könnte aber außerdem ein übereifrig nach vorne gespieltes Kassettenband sein.
06. You Never Know 4:22
Ja. Das ist Wilco. Alle beginnen gleichzeitig. Tweedy formuliert er einen Aufruf („Come on children, you’re acting like children / Every generation thinks it’s the end of the world“) uns zusammen zu reißen, denn Kinder meint er ja nicht wirklich, oder? Dahinter bilden Orgel und Gitarren ein Grundgerüst, das durch die üppigen Backgroundchöre im Prechorus und Refrain deutlich in Richtung der „Traveling Wilburys“ weist. Aber nicht ungeschickt. „You never know“ ist der gute Laune – Song des Albums. Unbegründbar einsetzbar: Zur Urlaubsfahrt, zum Feierabend, zum Regentanz. Obwohl Tweedy immer wieder vom Ende der Welt spricht und wir ja niemals wüssten, was da exakt auf uns zu kommt. Auch er nicht („It’s a secret I can’t tell”).
07. Country Disappeared
Hier wird’s ein wenig mürrisch und mißvergnügt. Tweedy beklagt den Verlust eines Landes („Wake up, we’re here, It’s so much worse than we feared, There’s nothing left here, Our country has disappeared”). Schwer einzuschätzen, ob Tweedy über Amerika spricht (“You’ve got the helicopters dangling, angling to shoot, The shots to feed the hungry weekend news crew anchormen”). Oft hat man den Eindruck, er spräche von einer verlorenen Liebe. Aber man kann ja auch ein Land lieben.
Die Band fungiert in „Country Disappeared“ als Staffage, während Tweedy seinen Schmerz und Kummer hinaus ächzt. Das Grundschema stellt sich also eindeutig elegisch dar. Tweedy wechselt zuweilen in die weinerliche Kopfstimme. Doch zusammen gewürfelt ist der Song alles, für was Wilco steht: Nüchternheit (mit gewissen Ausnahmen, Herr Tweedy!), Realismus und verhaltener Optimismus. Ein Song, den man höchst wahrscheinlich nur in einem kaputten Land wie Amerika schreiben kann. Uneingeschränkt Straßen tauglich. Aber desgleichen Herz eröffnend.
08. Solitaire
Zunächst vermutet man Johnny Cash würde gleich zu singen beginnen. Zu den Cowboy- und Countrygitarren. Doch es ist Tweedy mit gedoppeltem Gesang. Eine befremdende Atmosphäre umweht „Solitaire“. Tweedy erzählt von Fehleinschätzungen („Once I thought without a doubt , I had it all figured out, Solitaire was all I was playing”), aber auch Einsichten („Took too long to see, I was wrong to believe in me only“).
Über endlose Strecken ließe sich „Solitaire“ ebenso in einen Sergio Leone Western stecken. Die Bassdrum steuert vereinzelte und abgehakte Noten bei, die Gitarren klingen nach Steel oder Wind oder Anklage. Das Stück plätschert zwar nicht, scheint aber auch in keine Richtung zu plantschen. Vielleicht ging es Wilco genau darum. Die Orientierungslosigkeit zu huldigen. Obwohl „Solitaire“ ein gesetzter Song ist, fühlt man sich doch getrieben, aufgewühlt und unruhig. Von einem außerordentlichen Tweedy („I was cold as gasoline“), der das alles zusammenklebt.
09. I'll Fight 4:24
Eine repräsentative Wilco – Nummer. Mit dezentem Folkcharm. Ohne große Aufregung geht es dahin. Die Gitarren schrammeln, die Orgel pfeift oder legt Fundamente, Schlagzeug und Bass vereinen einen Rhythmus, der nicht der Weisheit letzter Schluss ist, nichtsdestoweniger aber dem Song und damit Jeff Tweedy dient. Der bemüht diesmal wie im Eröffnungssong seine beste Stimmlage, der man Wahrheit und Überzeugung abnimmt.
Möglicherweise der Song mit den wenigsten Höhepunkten, Verblüffungen und Emotionen. Dafür mit bitteren Textstellen („And if I die, I’ll die, I’ll die alone , On some forgotten hill, Abandoned by the mill, All my blood will spring and spill, I’ll thrash the air, then be still”), die man in das sonnige Gemüt des Songs so recht nicht einordnen kann. Tweedy lehnt sich wohl ein wenig gegen das geplante, bürgerliche Leben auf („You will steer your life”), möchte sein Leben aber nicht als verschwendet sehen, weil er Liebe geben kann („My life will not be lost / If my love comes across“). Ein wirrer Text, der trotz des klaren Themas „Leben, Tod und Ziele“ in musikalischer Kombination funktioniert.
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10. Sonny Feeling 4:14
Rockig, unabhängig und schneidend startet „Sonny Feeling“. Ein wiederkehrendes Gitarrenriff bildet das Grundgerüst, dazu ein markanter Orgellauf, der die Gitarren unterstützt. Beachtlich die Leadgitarre, deren bluesige Einwürfe als Vorbote des Refrains agieren, der relativ knapp ausfällt: „Sonny Feeling“. Ein Wortlautspiel (Sonny /sunny), das ebenso wie das Schicksal zwei Optionen anbietet („My life split in two directions / Into two separate fates”). Tweedy führt uns und wahrscheinlich Sonny nach Amsterdam und Berlin. Er kokettiert mit Eminem’s Attitüde („She knows nothing of Eminem’s Suburban gangster flow“). Die sich aber genauso wenig in den Text fügen mag, wie die Highschool-Erinnerungen („I’m on my way home / From my high school“). Oder der Hinweis, dass da mit Sonny etwas passiert sein muss („Oh maybe it’s random, How each moment unfolds / It didn’t feel like the wrong time or place, Until they cut off her clothes“). Und wenn Tweedy in sich geht („I’m always contemplating, Why the kids are still cruel“) und dann mit der zweiten Option „sunny“ feststellt: „A sunny feeling is taken away“ darf man sich von kompletter Verwirrung umgeben fühlen. Völlig konträr zur vorlauten Spielfreude, die diesen Song befruchtet. Dessen Gitarren - oft entartet und verfremdet – im Fokus stehen. Tweedy ist als Musiker erstmals nicht richtig im Mittelpunkt, das schadet aber nicht unbedingt. Eine zu bejahende und zu bedenkende Wilco-Nummer.
11. Everlasting Everything 4:01
Der Klimax zum Ende des Albums. „Everlasting Everything“ schließt den Rahmen, den „Wilco (the song)“ aufbrach. Eine Ballade, die Tweedy mit Gitarre und Klavier eröffnet. Schwermut legt sich ums Herz, der dramatisch, defätistisch anschwellende Refrain, getaucht in einem diskreten Glockenschlag, forciert die Beklemmung. Der Seelenkatarrh kann beginnen. Eine Marschtrommel gesellt sich zur nächsten Strophe, die wieder im Refrain endet, um nun den Song endlich auf seine Reise zu schicken. Schlagzeug, Klavier und Streicher übernehmen langsam das Kommando. Assistieren Tweedy, der unpathetisch singt und einfach er selbst ist. Und dabei die Vergänglichkeit verachtet, weil die Liebe doch herhalten muss: „Everything alive must die, Every building built to the sky will fall / But don’t try to tell me my, Everlasting love is a lie“.
Und doch weiss Tweedy einmal mehr um seine Unsicherheit, seine Zögern und Zweifeln. Ist das wirklich so, wie er glaubt („Oh nothing could mean anything at all“)? Letztendlich, wenn man so will, eine Wilco – Ballade. Offensichtlich die beste bisher. Am Ende gibt’s ein wenig Gebläse, dazu sich auflösende Gitarrentöne, die dieser Welt zu entschweben scheinen. Plötzlich ist Schluss.
Fazit
Unproblematisch erscheint mit „Wilco (the album)“ die rationale oder ekstatische Diagnose: Wilco bleibt die gegenwärtig beste Studio- wie Liveband. Warum? Weil sie es schlicht können. Nämlich eigen, oft eigenartig zu klingen. Gefühle und Emotionen sauber zu trennen. Affekte zu basteln. Traumhaft sicher an jedem sich bietenden Klischee vorbei schrammen. Und sich so nicht nur absetzen vom restlichen Gedöns des Alternative-Rock oder Indie-Folk, sondern eben sie selbst sind.
Einschränkend darf man anfügen: Das gelingt allerdings nur, solange Jeff Tweedy in diesem Kosmos steuert, lenkt und dirigiert. Selbstverständlich gruppieren sich um ihn famose und ähnlich gestrickte Musiker. Doch erst Tweedy macht die Kaputtheit, Bedrücktheit und Ängstlichkeit der Band perfekt. Und steht gleichzeitig für Optimismus, Hoffnung und Illusionen. Das wirkt teils realistisch und teils krank. Und das könnte das Geheimnis sein, warum Wilco immer wieder auf Neue funktioniert. Seit sieben Alben. Ohne Wiederholungseffekt und Abnutzungserscheinungen. Mal sehen, wann die Zeit gekommen sein wird, ein Wilco Album zu zerfetzen.