[Aus der aktuellen nmz 11/2013] Von Berlin nach Stuttgart. Während alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, nach Berlin zieht, gehe ich fort, ausgerechnet in die Hauptstadt der Kehrwoche. Adieu ihr Konzerte in schummerigen Kellergewölben, Ateliers und Bars, in einer Stadt, wo man jeden Tag zwischen mindestens vier Konzerten mit zeitgenössischer Musik wählen kann. Schluss auch mit der Gewissheit, dass ich – ohne mich vom Fleck zu bewegen – immer am Puls der Zeit lebe. Ist da eigentlich noch jemand im fernen Südwesten, der uncool genug war, daheimzubleiben? Verlockungen sehen anders aus.
Trotzdem kann ich das Mitleid meiner Berliner Freunde bald nicht mehr ertragen. Ja, wir schwimmen gegen den Strom. Nicht, weil wir den Schwaben heimzahlen wollen, dass sie den Prenzlauer Berg besetzt haben, sondern der Arbeit wegen. Vom armen, jungen Berlin in den reichen, alten Westen, wo beinahe Vollbeschäftigung herrscht. Ich würde nicht mehr ernsthaft darüber streiten müssen, ob 200 Euro Musikerhonorar für eine Uraufführung inklusive Proben ethisch vertretbar sind. Und außerdem, so machte ich mir Mut, ist Baden-Württemberg kein kulturelles Brachland. Zwar steht das Opernhaus des Jahres jetzt in Berlin, aber in der Landeshauptstadt gibt es ein legendäres Ballett, das Eclat-Festival, Ensembles für zeitgenössische Musik und eine Musikhochschule.
Und dann der Ballungsraum: Auch in Heidelberg und Freiburg arbeiten hervorragende Ensembles für zeitgenössische Musik. In einer Stunde erreicht man das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie, eine Institution, die sich die klamme Hauptstadt nie und nimmer leisten könnte. Das Land besitzt fünf Musikhochschulen, und als ich im Winter das erste Mal nach Stuttgart kam, wohnten dem Konzert gleich zwei Musikkritiker bei, eine Berufsgruppe, die in Berlin als beinahe ausgestorben gilt. Wer mir also weiterhin sein Beileid aussprach, dem hielt ich entgegen, dass ich erstens meinen Lebensmittelpunkt in eine solide Kulturlandschaft verlege, zumal mit grün-roter Regierung, und zweitens, dass dort unten die Bürger noch auf die Barrikaden gehen, wenn die Kultur beschnitten wird. Im Süden wird erbittert gegen Kulturkürzungen und Bahnhofsprojekte gekämpft, während die Berliner das Flughafendesaster noch immer nicht als das ihre begreifen.
In Freiburg hat der Widerstand gegen die Fusion der beiden SWR-Orchester beeindruckende Energien freigesetzt. Falls es gelingen sollte, die Zusammenführung der Klangkörper abzuwenden und das Orchester aus Baden-Baden und Freiburg als Stiftung weiterzuführen, wäre das eine beeindruckende bürgerschaftliche Leistung. Allerdings ist dieser Streit auch ein Lehrstück in Sachen Landeskunde. Solidarität ist zwischen den auch einst fusionierten Landesteilen Baden und Württemberg offenbar ein Fremdwort. Während sich die Stuttgarter, die anders als die Freiburger vom Umzug verschont geblieben sind, der Entscheidung des Senders beugen, protestieren die Badener umso energischer. Und es ist erstaunlich, wie viel Missgunst in den Protestbriefen mitschwingt. Zwar ist es offensichtlich, dass die Landeshauptstadt besser mit Sinfonieorchestern ausgestattet ist, aber dass die Orchesterretter allen Ernstes vorschlagen, den Stuttgarter Zoo aus der Landesförderung zu streichen und stattdessen das Freiburger Orchester zu unterstützen, ist kein besonders sachlicher Diskussionsbeitrag. Genauso könnte man Schwimmbäder gegen die zeitgenössische Musik ausspielen.
Im September stehen dann die Umzugskisten in einem Stuttgarter Vorort. Noch während des Auspackens werde ich gefragt, ob ich schon von den Kürzungen bei den Musikhochschulen gehört hätte? In Trossingen wird das Angebot so verkleinert, dass von der Institution fast nichts mehr übrig bleibt, und in Mannheim soll die Popakademie mit der Hochschule verschmolzen werden. Und da höre ich das Wort zum ersten Mal: Auch im Garten Eden muss „gespart“ werden. Selbst Baden-Württemberg, erfahre ich, lebt über seine Verhältnisse. Hinter den Reformen stehen Sparzwänge, jeder sechste Platz soll wegfallen.
Wie die Politik auf den sofort aufbrausenden Protest reagiert, ist allerdings erstaunlich. Kaum haben die Grünen die Hochschulplanung öffentlich gemacht, werden die Landespolitiker von der Parteispitze zurückgepfiffen, und ich fange an, mir Gedanken über die Linie der grünen Kulturpolitik zu machen. Im Internet finde ich eine Absichtserklärung, die derart frei von Inhalten ist, dass man sie noch in fünfzig Jahren wiederverwenden könnte. Vom Innovationsfonds Kunst des Landes Baden-Württemberg steht da allerdings nichts, obwohl selbst ich Zugereiste schon mitbekommen habe, dass ihn die jetzige Regierung eingerichtet hat: jährlich drei Millionen Euro, die vor allem die experimentelle – und damit meist freie – Szene stärken sollen. Das ist schon eher das, was ich von den Grünen erwarte: eine gewisse Sympathie für progressive Kunst. Aber auch in dieser Hinsicht wird mein Restvertrauen kurz darauf auf die Probe gestellt. Das Kunstministerium habe, so erfahre ich, unter anderem Johannes Kreidlers „Charts Music“ aus einem geplanten Konzert mit der Begründung gestrichen, das Programm sei „zu progressiv“, so zumindest der Wortlaut einer vom Komponisten öffentlich gemachten Mail von Seiten der Organisatoren. Vorgesehen war die Aufführung für die Verleihung des Schiller-Gedächtnispreises 2013 an Rainald Goetz. Die Stuttgarter Musikhochschule sollte das musikalische Rahmenprogramm vorbereiten, hatte die Grünen aber offensichtlich mit den Rebellen verwechselt, die sie einmal waren. Von offizieller Seite hieß es anschließend, das Programm sei einfach „zu lang“ gewesen. Zensur, wie gleich geschrien wurde, ist das allerdings noch lange nicht, schließlich wurde das Stück nicht verboten.
Und abgesehen davon darf (und wird) sich jedes Ministerium für seine Feierlichkeiten immer die Musik aussuchen, die es für passend hält. Und vielleicht steht den Grünen ja die Mannheimer Popakademie traditionell näher. Subversive Kultur und staatliche Repräsentation ließen sich noch nie besonders gut vereinbaren. Und ich müsste – nicht nur als baden-württembergische Neubürgerin – doch ein Weilchen darüber nachdenken, ob ich mich überhaupt freuen würde, wenn sich der Staat künftig mit subversiver Musik feiern lässt.