Auf die Badesaison folgt die Musiksaison. Das Usedomer Musikfestivals verlängert die Reisezeit auf der Ostseeinsel in den Herbst – auch wenn die Strandkörbe dann schon im Winterquartier stehen. Geografie wird hier zum Programm: Im Mittelpunkt steht die Ostsee als gemeinsamer Kulturraum unterschiedlicher Völker. Jedes Jahr widmet sich das Festival einem anderen Ostsee-Anrainerstaat; 2012 war Russland an der Reihe.
Das Eröffnungskonzert ging in der riesigen, von Fledermäusen bewohnten Turbinenhalle des Kraftwerks von Peenemünde über die Bühne. Dort, wo einst der Strom für das größte Rüstungsprojekt des Dritten Reiches erzeugt wurde, wechselten sich Kurt Masur und seine Dirigier-Meisterschüler am Pult des Baltic Youth Philharmonic ab. Dieses festivaleigene Orchester, das Musikstudenten sämtlicher Ostsee-Anrainerstaaten vereint, spielte Schostakowitschs Erste Sinfonie und Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“.
Besonderen Charme gewinnt das Festival durch die Vielfalt von kammermusikalischen Aufführungen. Diese Veranstaltungen finden auch im touristisch wenig erschlossenen Hinterland mit seinen stillen Ufern und sanften Hügeln statt. Etliche der dort aufgeführten Komponisten kennt man allenfalls dem Namen nach. Beispielsweise Sergej Bortkiewicz, einen polnischen Adligen aus der Ukraine, den die Wirren des Ersten Weltkriegs nach Schweden, Istanbul und Wien führten. Festivaldramaturg Jan Brachmann führte Bortkiewicz` schlichten, der Musiksprache Michail Glinkas nachempfundenen Klavierzyklus „Kindheit“ auf. Raritäten sind auch die schwelgenden, prächtig verzierten Romanzen à la Liszt von Mili Balakirew, dem Mentor des „Mächtigen Häufleins“ um Mussorgksi und Rimskij-Korsakow.
Von Anton Arensky wiederum, einem Schüler Rimskij-Korsakows, erklang das mit zwei Celli besetzte Streichquartett, das kurz nach dem Tode Tschaikowskis entstand. Cellist David Geringas und das Wuppertaler Streichtrio interpretierten dieses düstere Werk mit dramatisch hochgespannter Vehemenz, wobei sie jedoch in den polyphonen Passagen zarte Nuancen vermissen ließen. Es folgte eine Cellosonate Mieczysław Weinbergs, die Geringas durch seine hartnäckige Emphase in die Nähe Schostakowitschs rückte.
Aber auch Entlegenes bekannter Komponisten findet sich im Programmkalender. Von Tschaikowsky hatte man gar ein Frühwerk für die deutsche Erstaufführung ausgegraben: die Kantate „K Radosti“, also „An die Freude“, in welcher der Beethoven-Verehrer Tschaikowsky die berühmte Ode Schillers vertonte. Tschaikowski schrieb das groß besetzte Werk für seine Diplomprüfung bei Anton Rubinstein am Petersburger Konservatorium; eine Veröffentlichung lehnte er zeitlebens ab. Für die Aufführung am 3. Oktober flog das Akademische Sinfonieorchester aus Nowosibirsk ein, das erste Orchestra in residence in der 19-jährigen Geschichte des Usedomer Musikfestivals.
Der diesjährige Themenschwerpunkt wäre natürlich lückenhaft ohne die Tastenlöwen aus der russischen Klavierschule. Deren Vertreter Andrej Hoteev und Alexander Melnikov reisten nach Usedom an. Der 24-jährige Alexej Gorlatch stellte mit seinem Beethoven-Soloabend sein ebenso nuanciertes wie temperamentvolles Spiel unter Beweis. Der diesjährige Preisträger des Usedomer Musikfestivals fächerte eine Palette farbintensiver und zugleich transparenter Klänge auf.
Der Schwerpunkt des Festivals lag auf der Glanzzeit der russischen Spätromantik. Neuere Töne waren man nur am Rande zu vernehmen, so etwa beim Auftritt der Komponistin und Pianistin Katia Tchemberdji. Die Moskauer Wahlberlinerin präsentierte die Uraufführung ihrer Klavierstücke „Kamni“ (zu Deutsch: „Steine“). Die schlichte, meditative Musik erinnert an einen zenbuddhistischen Steingarten, durch den man langsam wandelt, um jeden Stein lange und aufmerksam zu betrachten. Jedoch ist Tchemberdjis miminalistisch reduzierte und anti-virtuose Musiksprache zugleich ausgesprochen klangsinnlich. Die Komponistin erkundet die Ränder eines jeden Klangs; dessen Entstehen und Vergehen. Dabei bezieht sie vielfältige Hall- und Resonanzeffekte, Cluster und Geräusche ein. Es folgte die deutsche Erstaufführung von Tchemberdjis Klaviertrio „I-Shi“, dessen Titel – diesmal auf Japanisch – ebenfalls „Steine“ bedeutet. Die ruhig dahin fließenden Klänge sind jenen aus den „Kamni“ verwandt. Und so erscheinen vor dem inneren Auge des Hörers alsbald die vielfältigsten Gesteine: klirrende Kiesel, hell aneinander schlagende Feuersteine oder behäbige Findlinge.