Die Werk-Stoffe, aus denen sich das Internationale Lübecker Kammermusikfest jeweils zum Himmelfahrtwochenende konstituiert, haben keine Verfallsdaten. Denn von Evelinde Trenkner, der künstlerischen Direktorin, werden sie mit klarem Qualitätsbewusstsein jedes Jahr in markanten Programmprofilen sorgfältig ausgewählt, originell zusammengesetzt und von Ihrem Ehemann Herman Boie kenntnisreich moderiert.
Bei der 23. Ausgabe vom 9. bis 11. Mai 2013, zugleich das 25-jährige Jubiläum der Scharwenka-Gesellschaft e. V. als verantwortlicher Organisation des Kammermusikfestes, förderten das Interesse an der dreitägigen Veranstaltung wieder Klasse-Künstler älterer wie jüngerer Generation, sodass neugierige Erwartung das Publikum ins sehr gut besuchte Kolosseum zog.
Das 4. Klavierkonzert von Xaver Scharwenka dirigierte Gustav Mahler in der Carnegie Hall New York 1910. So waren vice versa durchaus spektakuläre Aufführungen seiner Symphonien, die zu den Giganten dieses Formats gehören, in Klavier-Arrangements beim Kammermusikfest schon in den Jahren zuvor naheliegend. Die von Bruno Walter transkribierte zweite Symphonie stellte Evelinde Trenkner mit ihrer Duo-Partnerin Sontraud Speidel dieses Mal jedoch nicht komplett, sondern spielte daraus nur den (mehrfach gegliederten) 5. Satz, dessen skeptisch-unruhige, ja zerissene Emotionalität wie eine pianistisch durchgegrübelte Heavy Metal Studie in Moll wirkte. Optimistische Kontraste dazu bildeten von Xaver Scharwenka das brillante Scherzo und die virtuosen Variationen für Klavier, die Alexander Markovich in hochenergetischem Stil präsentierte.
Mit der Verve des Polnischen Tanzes Nr. 1 erinnerte Evelinde Trenkner an den Millionenhit von Xaver Scharwenka. Einen solchen Erfolg hatte sein Bruder Philipp zwar nicht, aber stattdessen wird seine harmolodisch superb komponierte Sonate für Violine und Klavier in der sublimen Interpretation von Nadja Nevolovitsch mit makelloser Tongebung und perfekt begleitender Evelinde Trenkner als (leider) bisher zu selten beachtete Preziose ebenso unvergesslich bleiben wie die zwei Spanischen Tänze des Scharwenka-Freundes Moritz Moszkowski. Mit komplementären Komplimenten ans Tanz-Genre konnte dann das Cuarteto SolTango aus Lübeck das Publikum begeistern, nämlich animierenden Konzertversionen einiger argentinischer Tango-Klassiker von Osvaldo Pugliese im körperlich-sinnlichen und Astor Piazzolla im intellektuell-kontrapunktischen Stil.
Nach einem furiosen, die ganze chromatische Dramatik pointierenden Vorspiel zur Oper „Die Meistersinger“ von Richard Wagner, das Evelinde Trenker und Sontraud Speidel in einem Arrangement von Carl Tausig spielten, folgte am letzten Konzertabend ein Vokal-Recital: Die lyrische Melancholie der Fünf Lieder nach Gedichten Friedrich Rückert von Gustav Mahler präsentierten Mathias Husmann (Klavier) und Veronika Waldner (dramatischer Mezzosopran) als intensives Klangerlebnis. Durch ihre expressive Stimme konnte sie mit dynamisch variablen Timbres sogar den manchmal plakativen Duktus der „Lieder aus letzter Zeit“ von Richard Strauss mildern.
Zum Finale trumpften dann Cello-Star Natalia Gutman und ihre Klavierpartnerin Sonja Kagan mit exquisitem Repertoire auf: burleskes Capriccio, fließende Fantasie und chaplineskes Scherzo der „Drei Stücke“, ein für diese Besetzung komponiertes Werk von Paul Hindemith, waren nur der gelungene Auftakt für das weitaus virtuosere Eigenarrangement (mit Gregor Piatigorsky) der „Suite italienne“ (nach dem Ballett „Pulcinella“ von Igor Strawinsky), deren spieltechnischen Finessen für die turbulenten Szenen Natalia Gutman in geradezu berauschender Exklusivität darbot. Ein echter Jubiläumsclou.
Wo sonst, außer beim Internationalen Lübecker Kammermusikfest, kann man solch geglückte Kombination aus erlesener Musik und Interpretation auf Weltklasse-Niveau hören? Dieses Festival ist in seiner Programmdichte unvergleichlich und garantiert sich so über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus konstant wachsende Anerkennung.