Seit Februar sind Kommunen aus ländlichen Regionen Deutschlands aufgerufen, sich um die Auszeichnung „Landmusikort des Jahres 2025“ zu bewerben. Der Preis wird vom Deutschen Musikrat und vom Bundesmusikverband Chor & Orchester gemeinsam ausgeschrieben und vergeben. Ziel des Förderprogramms ist es, herausragende, innovative Musikprojekte und das ehrenamtliche Engagement in ländlichen Gebieten zu würdigen und weiter zu fördern. Ausgezeichnet werden besondere musikalische Aktivitäten, die einen vorbildlichen Beitrag zur Sichtbarkeit und Vernetzung von Musikgeschehen leisten. Jürgen Stark, Journalist, Musiker und ehemaliges Mitglied im Fachausschuss Popularmusik des Deutschen Musikrates, hat nicht erst aufs Förderprogramm gewartet, sondern im Laufe seines Lebens immer wieder „am Dorf“ musikalisch gewirkt. Stark, der heute sowohl erster Vorsitzender vom Popbüro Metropolregion Strasbourg-Ortenau, als auch von dessen Trägerverein ist, dem gemeinnützigen Kulturverein International Culture Productions e. V., beschreibt im Folgenden aus ganz subjektiver Sicht, was auf dem Lande alles möglich ist, wenn entsprechende Ideen und Akteure wie beispielsweise in Wacken oder im Ortenaukreis zusammenfinden.

Aus Schnapsidee wird Dorf-Hymne: „Reggae in den Reben“ bringt Ortenberg musikalisch zusammen. Foto: Stefan Herp
Reggae in den Reben
Das Dorf galt als rückständig, von „Schlafdörfern“ war die Rede. Wie fühlt sich „Dorf“ heute an? Innovative Schübe aus lebendiger Musikkultur sind unübersehbar. Ich weiß, wovon ich rede. Als ich Ende der 1990er Jahre ins schleswig-holsteinische Dorf Wacken zog, rumorte es dort zwar einmal im Jahr auf einer Festivalbühne, der gewaltige Durchbruch des heute weltberühmten „Wacken Open Air“ war aber noch nicht in Sicht.
In kreativer Freundschaft mit einem der Veranstalter, Holger Hübner, arbeitete ich am Aufbau eines musikalischen Förderprojektes, welches bundesweite Bedeutung erlangte: der „SchoolTour“. Kurze Wege am überschaubaren Ort wirkten beschleunigend: Die „SchoolTour“ zog alsbald im Wochentakt landesweit durch mehr als 100 Schulen. Erfunden auf dem Dorf. Weil dort der Musikunterricht genauso unattraktiv stattfand wie überall.
Meine zwei Söhne brachten mich auf diese Idee, der musikbegeisterte Holger Hübner war sofort dabei und wegen meiner Nähe zur Deutschen Phono-Akademie und zum Deutschen Musikrat entstand in Wacken die Initiative „Macht Mehr Musik“ als Avantgarde professioneller Musikförderung von Kindern und Jugendlichen durch erfahrene Musiker – ein Modell mit dem ich 25 Jahre arbeiten sollte.
Die damalige Initiative bündelte Ressourcen, die es vor Ort gab, die aber beziehungslos nebeneinander existierten: Den Musikverein der Freiwilligen Feuerwehr, die Veranstalter des W:O:A, den in der Nachbarschaft lebenden Folkbarden Hannes Wader, andere Musiker, mich als Projektleiter. Die Dorfschule machte auch mit, wir brachten jede Menge Musik in Klassenzimmer und in damals von der Schule gestellte Übungsräume. Der Rest ist eine Erfolgsgeschichte über die die nmz mehrfach berichtete. Neben dieser Initiative gilt es festzuhalten, dass Hübner und sein Partner Thomas Jensen ihr Festival für viele Projekte und eine massive Belebung des dörflichen Umfeldes nutzten. Wurde das W:O:A niemals groß vom Land subventioniert, gehört heute der gesamte Betrieb des Festivals, samt etlichen Unter- und Nebenfirmen, zu den vermeintlich größten Steuerzahlern des strukturschwachen nördlichen Bundeslandes. Am Ort wurde die Musikförderung für die eigene Szene erhalten und für Bands und Newcomer weiterentwickelt.
Wacken drohte seinerzeit auch zum „Schlafdorf“ zu werden, also zu einer reinen Pendlergemeinde ohne gesellschaftlichem Leben – doch der „Landgasthof zur Post“ konnte durch Jensen und Hübner gerettet werden. Er heißt jetzt „LGH“ – und ist ein Musikklub. Und der Bürgermeister schwärmt: Dank der gewachsenen Beliebtheit durch das kultige Festival erlebt der Ort einen Zustrom, müssen ständig Bauland und neue Gewerbegebiete ausgewiesen werden. Wenn dann Paare, die sich im Publikum der ersten August-W:O:A-Woche des Jahres kennenlernten, im Folgejahr in der alten Dorfkirche heiraten, sind dazu sogar live (!) Metal-Klänge erlaubt. Fazit: Mit der Moderne, in harmonischer Verbindung zur Tradition, ist eine dynamische Weiterentwicklung des ländlichen Raums machbar.
Dorfinitiative schafft musikalische Gemeinschaft
Beispiel zwei liefert ein Schwarzwalddorf am Rande von Weinbergen. Dort lebe ich seit einigen Jahren und durfte hier erneut Zeuge der Kraft musikalischer Impulse werden: Geschichte wird nicht nur gemacht, manchmal wird sie auch gesungen. An einem Sommerabend in der Sieferle Strauße – der Straußwirtschaft am Ort – entstand die Idee für eine „Ortenberg Hymne“.
Freunde ermunterten mich spontan zum Griff zur Gitarre, denn die 50-Jahresfeier zum Erhalt der Eigenständigkeit Ortenbergs stand im Herbst 2024 an. Musik und Textbausteine für eine Erzählung entstanden schnell. Trutz-Ulrich Stephani, hatte durch die Erfindung eines Wochenmarktes mit Live-Musik bereits großen Zuspruch erhalten. Sein musikalischer Ortenberger Feierabendmarkt wurde zur Attraktion. Marktleiter Stephani ging schließlich mit der Idee vom „Reggae in den Reben“ zum Bürgermeister Markus Vollmer – dann ging alles sehr schnell.
„Mir gefiel die Idee sofort. Das war mal etwas ganz anderes und es passte hervorragend zu unserer Entwicklung. Allerdings kannte ich diesen Mitbürger noch gar nicht und wollte ihn daher persönlich kennenlernen“, sagte Vollmer gegenüber dem „Guller“ – dem Ortenauer Stadtanzeiger. Wir tauschten uns aus. Dass Ortenberg einen Bürgermeister hatte, der hervorragend Akkordeon (aktiv im örtlichen Musikverein) spielte, überraschte mich. Auf längere Jam Session mit Akkordeon und Gitarre folgte der Auftrag zur professionellen Fertigstellung des Songs. Gemeinsam mit Vollmer schrieb ich die Strophen.
Der fröhliche und tanzbare Reggae wurde im Big Band-Format im Rathaus geprobt, der amtliche Sitzungssaal zum Tonstudio umdekoriert. Für die umfangreichen Aufnahmen wurde Steve Schroyder aus Freiburg gewonnen, ein erfahrener Künstler und Produzent, der sich einen Namen als „Urgestein der deutschen Elektronikszene“ (unter anderem Tangerine Dream) gemacht hat. Vom Musikverein kamen die Jugendlichen Jonah Bahr (Trompete), Damian Schillinger (Saxophon) und Sarah Danner (Posaune) hinzu. Als Gitarrist und Sänger erhielt ich Unterstützung von den Sängerinnen Julia Klumpp und Lena Walter, welche neben ihren gesanglichen Qualitäten in der Gemeindeverwaltung (!) arbeiten. Ergänzend kam noch als Sängerin Maria Vollmer hinzu.
Für das Non-Profit-Projekt kreierte Stefan Herp aus Ortenberg das Musik-Video. Es entstanden Aufnahmen vom Schwarzwald, aus den Weinbergen und bei der Sieferle Strauße. Das Video wurde im Juli 2024 bei der 50-Jahr-Feier auf dem Dorfplatz präsentiert.
Für Markus Vollmer, der inzwischen in den Ruhestand ging, lohnte sich dieses Independent-Experiment: „Das Ergebnis dieses gelungenen Experimentes ist eine einzigartige Interpretation des Ortenberger Lebensgefühls, bringt Vieles was Ortenberg ausmacht auf den Punkt.“ Der Song als moderne Erzählung von Geschichte am Ort, mit Erinnerungen an Landvogte und Fremdherrschaft – eine Hommage an Freiheit und Unabhängigkeit der Bürger.
Gleichzeitig trug die Ortenberg-Hymne zur Vernetzung der musikalischen Aktivitäten bei, bewirkte eine Band-Gründung und Folgelieder, Nachahmungen an anderen Orten (sogar in Hamburg!) – und schlug Wellen bis ins ferne Jamaika.
Im Ursprungsland des Reggae und in Online-Magazinen entdeckten Fans den Song. Nachfolgend diskutierten Szeneanhänger, ob Akkordeon zum Reggae passen würde. Eine Vertreterin der Szene gab schließlich ihren Segen: „It fit, tho!“ Dorfmusik kennt keine Grenzen.
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